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"Demokratie kann man nicht mit Gewalt erzwingen"

Das Gespräch führte Steffen Leidel24. Januar 2005

Der ehemalige UN-Koordinator für den Irak, Hans von Sponeck, fürchtet Tumulte, aber keinen Bürgerkrieg nach den Irak-Wahlen. Gleichzeitig kritisiert er im DW-WORLD-Interview die US-Regierung scharf.

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Hans Graf von SponeckBild: AP

DW-WORLD: Die Gewalt im Irak geht unvermindert weiter. Am Sonntag sollen dennoch Wahlen stattfinden: Inwiefern sind sie zu diesem Zeitpunkt sinnvoll?

Hans Graf von Sponeck: Die Wahlen machen bei nüchterner Betrachtung, was den 30. Januar angeht, keinen Sinn. Ich bin noch nicht überzeugt, dass es zu einem Wahlgang kommt. Wenn das geschieht, wird es viele Personen geben, auch einflussreiche Personen, die sagen, dass diese Wahlen nicht anerkannt werden sollen. Man weiß ja schon heute, dass große Teile der sunnitischen Bevölkerung sich nicht beteiligen werden. Sie werden sagen: Das war keine Wahl, die wir akzeptieren. Da werden auch schiitische Gruppen dazugehören. Es wird ein Durcheinander, ein Anklagen und Gegenanklagen geben, es wird Tumulte geben, bevor sich eine Regierung, die vom Lande akzeptiert wird, entwickeln kann.

Wie groß ist die Gefahr eines Bürgerkriegs nach den Wahlen?

Durch die Konflikte und die zum Teil ethnisch kolorierten Proteste und Attentate ist heute die Basis für eine Konfrontation zwischen den Schiiten, den Sunniten, den Kurden und anderen Gruppen wie den Turkmenen breiter geworden. Das ist eine große Gefahr für das Land, die Gefahr aber für einen Bürgerkrieg halte ich nach wie vor für gering. Wir dürfen nicht vergessen, dass trotz aller Auseinandersetzungen zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden - die es auch zurzeit von Saddam Hussein gegeben hat - diese Gruppen über Jahrhunderte hinweg auch friedlich miteinander gelebt haben, trotz aller ihrer Unterschiede. Bagdad ist die größte Stadt der Welt, was Kurden angeht. Fast eine Million Kurden leben dort. In der Beamtenstruktur, im Militär, in den Betrieben hat es immer gemischte Gruppen gegeben. Da haben Schiiten neben Sunniten und Kurden gearbeitet. In den Nachbarschaften in Bagdad gibt es keine rein ethnisch orientierte Gemeinde mit Ausnahme von Sadr-City, der ehemaligen Saddam-Stadt, wo der überwiegende Teil Schiiten gewesen sind.

Mit welchem Ausgang der Wahlen rechnen Sie? Den Schiiten wird eine Favoritenrolle bei den Wahlen zugeschrieben.

Dass die Schiiten mit etwa 60 Prozent der Bevölkerung den Wahlausgang beeinflussen, das ist keine Überraschung. Aber da gibt es keine gemeinsame Basis unter diesen Gruppen. Es gibt keine einheitliche schiitische Wahlgruppe. Es gibt etwa 15 größere Parteien und Allianzen, die sich an der Wahl beteiligen. Dazu gehört die "Vereinigte Irakische Allianz", die weitgehend aus schiitischen, klerikal orientierten Gruppen besteht. Dazu gehört vor allem Abdulasis al-Hakim, auf der anderen Seite der säkulare Ahmed Chalabi. Aber es gibt auch eine Schiiten-Gruppe unter Ijad Allawi, die "Irakische Liste" -das ist eine Vereinigung von verschiedenen Gruppen. Da gibt es viele Konflikte, die schon lange vor dem Ende des Saddam-Regimes existierten, zum Beispiel zwischen der Allianz von Chalabi und der Allianz um Allawi.

Lesen Sie im zweiten Teil: Haben die USA die eskalierende Gewalt im Irak selbst zu verantworten und welchen Ausweg gibt es aus dieser Situation?

Das größte Problem liegt nach wie vor bei der Gewalt im Land. Inwiefern sind die USA dafür selbst verantwortlich?

Washington muss endlich anerkennen: Man kann einem Volk die Demokratie und die Freiheit, von der Bush in seiner Antrittsrede am 20. Januar gesprochen hat, nicht mit Gewalt aufzwingen. Der Hauptgrund für die Entwicklung ist die Tatsache, dass die Amerikaner das Land okkupieren, dass sie nicht – wie das manche gehofft haben – als Befreier kamen. Man hat lange vergessen, dass Saddam nicht mehr der Präsident des Landes ist. Man konzentriert sich jetzt auf das Überleben und merkt, dass die Lebensqualität heute in vieler Hinsicht schlechter ist, als sie es zurzeit der Wirtschaftssanktionen war.

In einem Gespräch mit Bagdad wurde mir gesagt, dass es in vielen Teilen der Stadt seit Tagen kein Wasser gibt. Die Grundbedürfnisse werden nicht gedeckt. Der Volkszorn hat sich immer mehr organisiert und ausgebreitet. Es ist eine eklatante Vereinfachung, wenn man sagt, das beschränkt sich auf das sunnitische Dreieck. Das ist nicht der Fall: in Basra, in anderen kleineren Orten im Süden gibt es auch Probleme. Man kann heute sagen, dass der Großteil der irakischen Bevölkerung sich auflehnt gegen diese Besatzer, die nicht das gebracht haben, was man von ihnen erwartet hat. Die große Masse ist gegen die Besatzer. Die Menschen wollen ihre Freiheit, sie wollen aber die Freiheit des Iraks zu ihren Bedingungen.

Sollten sich die USA den schon zum jetzigen Zeitpunkt zurückziehen, um Vertrauen zu schaffen?

Ich glaube, das ist eine rein theoretische Frage. Das werden sie nicht tun. Aber wenn etwas Weisheit in der Regierung Bush existieren würde, dann könnte man sich etwas überlegen. Geschickt wäre, dass Zeichen gesetzt werden, dass man jetzt bereits einen Zeitplan verfolgt für den Abzug und symbolisch könnten ein paar Bataillone abgezogen werden. Das würde Eindruck machen, aber ich glaube nicht, dass das geschehen wird.

Sehen Sie einen Ausweg aus der Gewalt?

Ein Rezept anzubieten, da muss man vorsichtig sein. Aber es müsste Ansätze geben. Nötig ist mehr Dialog. Es gibt gemäßigte Gruppen um den ehemaligen Außenminster Adnan Patschatschi, von dem die UNO gehofft hatte, dass er der Leiter der Übergangsregierung würde. Allawi ist es geworden, ein extremer Mann mit dunklem Hintergrund. Man müsste mit den Gruppen ein sehr viel intensiveres Gespräch führen. Die Europäer müssten sich vielmehr einsetzen und nicht nur immer drei Schritte hinter den amerikanischen und britischen Amtskollegen hinterherlaufen.

Die Europäer haben in den vergangenen Jahren mit Ausnahme der Franzosen nicht die Rolle gespielt, die die Welt und der Irak von ihnen erwartet hat. Die EU neutralisiert sich immer wieder durch die verschiedenen Gruppen, die sich gebildet haben in Bezug auf das Irak-Problem. Man kommt nicht zu einer gemeinsamen Europa-Irak-Politik. Diese Neutralisierung durch Gegensätze ist das Übel. Ich zweifle aber nicht: Der Grundstein für eine verbesserte Sicherheitssituation wird gelegt, wenn die amerikanischen und britischen Truppen abziehen und wenn die Iraker das Gefühl haben, dass sie jetzt Herr ihrer eigenen Situation sind. Unter all den Gruppen, die es heute gibt - Monarchisten, Kommunisten, Schiiten, Kurden oder Sunniten -, ist noch nicht eine Figur erschienen, von der man meinen könnte, dass sie in der Lage sei, den neuen Irak zu führen.

Hans Graf von Sponeck war zwischen 1998 und 2000 UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Irak und Leiter des Öl-für-Lebensmittel Programms. Weil er die Aushungerung und Verelendung der Zivilbevölkerung als Folge der Sanktionspolitik nicht länger mittragen wollte, kam er in Konflikt mit den Regierungen der USA und Großbritanniens und trat im Februar 2000 von seinem Posten zurück. Insgesamt stand von Sponeck mehr als 30 Jahre im Dienst der UNO.