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Das Schweigen der Eliten

Kristina Michahelles15. Mai 2013

In Brasilien kommt die Aufklärung von Verbrechen während der Militärdiktatur nur schleppend voran. Durch den Besuch von Bundespräsident Gauck hofft die nationale Wahrheitskommission jetzt auf Rückenwind aus Berlin.

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Brasilianische Wahrheitskommission (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Während der Militärdiktatur in Brasilien (1964 bis 1985) verteidigte sie politische Gefangene. Heute koordiniert Rosa Maria Cardoso die Arbeit der nationalen Wahrheitskommission. Es bedeutet ihr sehr viel, dass Bundespräsident Joachim Gauck während seiner Brasilienreise die Mitglieder der Wahrheitskommission trifft.

"Ich hoffe, dass Gauck uns in unserem Einsatz für Demokratie und Aufklärung beflügelt", erklärt die 67-jährige Rechtsanwältin. "Und ich hoffe, dass er uns aufgrund seiner Erfahrungen als Pastor in der DDR und als ehemaliger Beauftragter für die Stasi-Unterlagen Möglichkeiten für die Abkehr von Autoritarismus und Gewalt aufzeigt".

Rosa Maria Cardoso (Foto: Marcelo Camargo/ABr)
Rosa Maria Cardoso will die Gesellschaft mobilisierenBild: Marcelo Camargo/ABr

Vor genau einem Jahr nahm die nationale Wahrheitskommission in Brasilien ihre Arbeit auf. Sie soll die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 aufklären. Offiziellen Angaben zufolge wurden unter dem Regime 480 Menschen umgebracht. Von 160 Verschwundenen gibt es keine Spur mehr. Mehr als 100.000 Menschen wurden aus politischen Gründen inhaftiert. Die Zahl der Folteropfer wird auf mindestens 50.000 geschätzt.

Die sieben Mitglieder der brasilianischen Wahrheitskommission wurden von Staatspräsidentin Dilma Rousseff persönlich ernannt. Für Rousseff, die während der Diktatur selbst verfolgt, gefoltert und inhaftiert wurde, ist die Vergangenheitsbewältigung ein zentrales Anliegen. Gaucks Gespräche mit der brasilianischen Wahrheitskommission sind deshalb neben dem umfassenden Wirtschaftsprogramm ein wichtiger Bestandteil der Reise.

Schleppende Aufklärung

Doch auch fast drei Jahrzehnte nach dem Übergang in die Demokratie ist die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit in Brasilien immer noch problematisch. Nach Ansicht von Koordinatorin Rosa Maria Cardoso erschweren mehrere Faktoren die Arbeit der Wahrheitskommission: Die Gewalt gegen die Bevölkerung, die immer wieder auftritt, die starke soziale Ungleichheit und die anhaltende Inflation.

Für die Verzögerung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit macht die Kommissionsvorsitzende Cardoso einen "Pakt des Schweigens" verantwortlich. "Unter den gesellschaftlichen Eliten in Brasilien herrscht eine Art Unkultur der Versöhnung", erklärt sie im Gespräch mit der DW. "Die Eliten missbrauchen bewusst die Schwäche des Staates für ihre eigenen Interessen."

Dilma Rousseff und Joachim Gauck in Sao Paulo (Foto: imago/Xinhua)
Verbundenheit: Staatspräsidentin Rousseff und Bundespräsident Gauck kennen die Brutalität diktatorischer Regime aus eigener ErfahrungBild: imago/Xinhua

"Pakt von oben"

Rechtsanwalt Joao Ricardo Dornelles, Mitglied der Wahrheitskommission im Bundesstaat Rio de Janeiro, sieht das ähnlich. "In der Geschichte unseres Landes haben sich viele Entwicklungen ohne abrupte Änderungen vollzogen", sagt er, "meistens durch Abkommen oder einen Pakt von oben". Sowohl die Erklärung der Unabhängigkeit Brasiliens 1822 als auch die Abschaffung der Sklaverei 1889 sei ohne Beteiligung des Volkes geschehen.

Der "Pakt von oben" zwischen Gegnern und Befürwortern der Militärdiktatur mündete nach Ansicht Dornelles in eine kontrollierte Übergangsphase. Fortschritte in einigen Bereichen, wie bei der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen und dem Nachweis von Repression durch staatliche Organe, seien deshalb blockiert worden. So basierten die Lehrpläne in brasilianischen Militärakademien immer noch auf der Doktrin der nationalen Sicherheit, mit der 1964 der Putsch in Brasilien gerechtfertigt wurde.

Mittlerweile scheint die schleppende und schrittweise Vergangenheitsbewältigung sich zu einem Charakteristikum Brasiliens entwickelt zu haben. Während in den Nachbarländern Argentinien und Chile viele Täter bereits zur Verantwortung gezogen wurden, hat in Brasilien die Suche nach Toten und Verschwundenen gerade erst begonnen.

Fahndungsaufruf der Militärregierung aus dem Jahr 1968 (Foto: AP)
Wanted: Mit diesen Fotos fahndete die brasilianische Militärregierung nach ihren politischen GegnernBild: AP

Eigentlich sollte laut brasilianischer Verfassung die Suche nach der Wahrheit bereits 1988 beginnen. Doch das Thema schien damals weder die Regierung noch die brasilianische Gesellschaft zu interessieren. Nur die Familienangehörigen der ehemaligen politischen Gefangenen, Verschwundenen und Ermordeten und einige Menschenrechtsorganisationen drangen auf Aufklärung.

Am Pranger

Erst 1995 gelangte das Thema durch die Gründung einer Kommission für Tote und Verschwundene wieder in die Öffentlichkeit. Wieder vergingen einige Jahre, bis 2003 einige materielle und symbolische Entschädigungen bewilligt wurden. Ein weiterer Schritt war die Verurteilung Brasiliens durch den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) 2010. Kläger waren Familienangehörige der Verschwundenen und Toten der Guerilla von Araguaia, einer bewaffneten Widerstandsgruppe aus dem Bundesstaat Pará, die zwischen 1972 und 1974 aktiv war.

Mit der Amtseinführung der nationalen Wahrheitskommission vor einem Jahr erlangte die Vergangenheitsbewältigung in Brasilien erstmals öffentliche Bedeutung. "Es gibt Gewalttaten, die nicht verschwiegen werden dürfen und von der unsere Jugend erfahren muss", meint Rosa Cardoso. "Wir wollen nicht nur aufklären, sondern die brasilianische Gesellschaft für die Suche nach der Wahrheit mobilisieren".