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Das neue Leben italienischer Arbeitskräfte in Deutschland

Daphne Antachopoulos20. Dezember 2005

Vor 50 Jahren schlossen Deutschland und Italien ein Abkommen über die Vermittlung italienischer Arbeitskräfte nach Deutschland. Es war die erste Vereinbarung dieser Art, der viele weitere folgen sollten.

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Ankunft auf der Zeche Hugo in Gelsenkirchen: "Gastarbeiter" Antonio Usai Anfang der 60er Jahre

Dezember 1955: Ankunft der ersten italienischen Arbeiter in Deutschland, in der Tasche einen zweisprachigen Arbeitsvertrag und eine Arbeitserlaubnis - ausgestellt auf ein Jahr. So sieht es das Anwerbeabkommen vom 20.12.1955 zwischen Italien und Deutschland vor. In Deutschland stößt dieses Abkommen zunächst auf Kritik aus dem damaligen Arbeitsministerium, aber auch auf Widerspruch der Gewerkschaften: Sie verweisen auf die gut eine Million Arbeitslosen in Deutschland, die zunächst beschäftigt werden sollen. Doch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard - der Vater des deutschen Wirtschaftswunders - setzt sich durch. Mit Blick auf die guten Prognosen für die Wirtschaft besteht er auf den Arbeitskräften aus dem Süden und unterzeichnet mit dem italienischen Außenminister Gaetano Martino das Anwerbeabkommen. Zugeständnis bleibt die zunächst einjährige Befristung: Die Arbeitskräfte sollen nicht unbeschränkt bleiben dürfen.

Mit Broschüren wirbt man um die Arbeiter in Italien: "La Vita Nuova - ein neues Leben" verspricht man ihnen. Geld und Arbeitsplätze, die es vor allem in Süditalien nicht gibt. Denn während die Wirtschaft im Norden Italiens boomt, können die kleinen Bauernhöfe im Süden die Bevölkerung nicht ernähren. Also machen sich vor allem junge Männer auf den Weg nach Deutschland.

Wie bei der Musterung

Dieser Weg führt über Verona. In der norditalienischen Stadt wird die so genannte Deutsche Kommission eingerichtet. 1960 kommt eine entsprechende Stelle in Neapel hinzu. Die Arbeitswilligen brauchen eine amtliche Bescheinigung ihres Familienstandes, einen Personalausweis und ein Führungszeugnis, das belegt, dass sie keine schweren Straftaten begangen haben. Das italienische Arbeitsministerium stellt eine Bescheinigung über ihre beruflichen Fähigkeiten aus.

Zu den bürokratischen Hürden kommt auch die Gesundheitsuntersuchung - eine besonders unangenehme Angelegenheit für die Bewerber. Hier sind auch deutsche Arbeitgeber dabei. Karl Lutterbeck vom Bauernverband Württemberg-Baden beschreibt die Vorgehensweise: "Da saßen wir an einem Tisch wie bei einer Musterungskommission und die defilierten an uns vorbei. Und dann haben wir sie uns nach der Größe, nach der Stärke, nach Körperbau angeguckt. Manchmal haben wir uns die Hände zeigen lassen, ob sie möglichst große Hände und feste Schwielen an den Fingern haben. Daraus meinten wir zu sehen, dass derjenige arbeiten gewöhnt ist. Ab und zu guckte man einem dieser Italiener in den Mund, um festzustellen, ob auch seine Zähne einigermaßen in Ordnung sind."

Schlimme Baracken

Blut- und Urinproben werden genommen, Fragen nach Vorerkrankungen in der Familie gestellt. Es geht nicht nur um die Arbeitsfähigkeit, sondern auch darum, dass ansteckende Krankheiten nicht nach Deutschland gebracht werden. In Schlangen stehen die Menschen vor den Untersuchungsräumen. Etwa 150 Arbeiter aus allen Gegenden Italiens kommen jeden Tag in das Büro der Deutschen Kommission nach Verona, schreibt in diesen Tagen die Tageszeitung "L´Arena di Verona".

Wer angenommen wird, erhält seine Papiere und eine Zugfahrkarte. Außerdem - so schreibt es der Anwerbevertrag vor - bekommt er eine der Dauer der Reise angemessene Verpflegung und einen Geldbetrag für kleine Ausgaben. In Deutschland werden sie schon erwartet. Für die Unterbringung der Arbeitskräfte aus dem Süden sollen ihre Arbeitgeber sorgen. Für manche Ankömmlinge sind ihre Quartiere der erste Schock, den sie in Deutschland erleben. So auch für Bernardino di Groce, der mit 17 Jahren nach Deutschland kam: "Es waren also Baracken, acht bis zehn Baracken links und acht bis zehn Baracken rechts. In der Mitte waren die Toiletten, Waschmöglichkeiten und Kochmöglichkeiten. Es war für mich als Italiener - ich will nicht sagen, dass die Wohnverhältnisse besonders gut in Italien waren - aber Holzbaracken war etwas, das für uns nicht zu begreifen war."

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Weitere Abkommen folgen, doch viele Italiener verlassen Deutschland wieder, an ihre Stelle treten vor allem Türken.

Auch für deutsche Behörden werden die Unterbringungsmöglichkeiten zum sensiblen Thema. Doch es wird knapp zwanzig Jahre dauern, bis man gesetzlich festlegt, wie eine Unterkunft auszusehen hat.

Den Einwanderern geht es zunächst darum, zu arbeiten und Geld zu verdienen. Die Italiener arbeiten in ganz Westdeutschland auf dem Bau und in der Landwirtschaft und - vor allem im Ruhrgebiet - im Bergbau. Den Großteil ihres Lohnes schicken die meisten nach Italien zu ihrer Familie. Sogar das ist im Anwerbevertrag geregelt und erlaubt worden.

Zahlen unklar

Wie viele Italiener in den vergangenen 50 Jahren gekommen sind, um zu arbeiten, ist nur lückenhaft festgehalten worden. Man schätzt aber, dass es zwischen drei und vier Millionen waren. Im Anwerbeabkommen ist auch die Familienzusammenführung festgeschrieben, sofern genügend Wohnraum zur Verfügung steht, wie es bürokratisch heißt. Viele holen tatsächlich ihre Familie nach. Denn die Annahme, man könne lediglich zum Arbeiten in ein fremdes Land ziehen, seine Familie zurücklassen und nirgendwo Wurzeln schlagen, erweist sich als Illusion. Ein großer Teil der Italiener verlässt den Bergbau oder die Fabrik und macht sich selbstständig - oft mit Restaurants oder Eisdielen. Der italienische Lebensstil hält Einzug in Deutschland.

Mit stolzer Miene sitzt der millionste Gastarbeiter in der Bundesrepublik, Armando Rodrigues
Mit stolzer Miene sitzt der millionste "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik, Armado Rodrigues aus dem kleinen Dorf Vale de Madeiros in Portugal, auf dem Moped, das er bei seiner Ankunft im Köln-Deutzer Bahnhof geschenkt bekam.Bild: picture-alliance/ dpa

Auf das Anwerbeabkommen mit Italien folgen entsprechende Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland im Jahr 1960 und mit der Türkei 1961. Außerdem schließt Deutschland Verträge mit Marokko, Portugal, Tunesien und dem damaligen Jugoslawien. Ein langer Treck Arbeitssuchender aus dem Süden macht sich auf. Am 10. September 1964 wird mit dem Portugiesen Armando Rodrigues de Sá der millionste "Gastarbeiter" in Deutschland auf dem Köln-Deutzer Bahnhof begrüßt. Weitere knapp zehn Jahre später, im Jahr 1973, sind es 2,6 Millionen.

Ölkrise

Am 23.11.1973 jedoch ist Schluss: Die Bundesregierung verfügt - angesichts der Ölkrise und der schwierigen Wirtschaftslage - den Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer. Für die Italiener spielt das keine Rolle mehr, denn sie genießen schon seit Anfang der 1960er Jahre im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Freizügigkeit und können innerhalb der Gemeinschaft ihren Arbeitsort frei wählen.

Doch die meisten Italiener bleiben nicht in Deutschland: Fast 90 Prozent von ihnen sind in ihre Heimat zurückgegangen. Auch die meisten Spanier und Portugiesen haben Deutschland mittlerweile wieder verlassen.

Zurzeit leben nach dem Ausländerzentralregister knapp sieben Millionen Menschen mit ausländischem Pass in Deutschland, Eingebürgerte Einwanderer sind in den Zahlen nicht enthalten. Die meisten von ihnen kommen aus der Türkei. Doch auch wenn die Einwanderung nach Deutschland vor 50 Jahren begann und mittlerweile etwa zehn Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben, wurden viele Fragen der Integration lange ausgeklammert. Das zeigt sich zum einen in Bildungsstudien wie Pisa, in denen Kinder aus Einwandererfamilien regelmäßig schlecht abschneiden, weil eine Förderung fehlt. Es zeigt sich aber auch immer dann, wenn interkulturelle oder interreligiöse Konflikte auftreten, wie zum Beispiel bei der Frage des Kopftuchs. Offene, respektvolle Diskussionen auf gleicher Augenhöhe und ohne Angst oder Misstrauen von beiden Seiten scheinen auch heute noch ein schwieriges Kapitel im Einwanderungsland Deutschland zu sein.