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Lesikon der visuellen Kommunikation

30. Mai 2011

Im Internet kann alles nachgelesen werden - wofür braucht es da noch ein gedrucktes Nachschlagewerk? Um sich darin so herrlich zu verlieren wie im "Lesikon der visuellen Kommunikation", einem etwas anderen Lexikon.

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'Lesikon der visuellen Kommunikation', ein assoziatives Nachschlagewerk. 2010 im Verlag Herman Schmidt Mainz erschienen.
Bild: Verlag Hermann Schmidt Mainz

Bleiwüste, kein einziges Bild, nirgends. In dem etwas unhandlichen, zwei Kilo schweren Buch ist nur Text zu finden. Und das ausgerechnet in einem Nachschlagewerk für visuelle Kommunikation - was für eine Enttäuschung. Doch schon beim Durchblättern der 3000 Seiten (!) zeigen sich die Vorteile. Es gibt zwar keinen Anfang und kein Ende, dafür jede Menge unerwartete Begriffe, 9704 um genau zu sein, an denen der Leser schnell hängen bleibt.

"Falafel - 2002 von Per Jorgensen entworfene, dem Persischen nachempfundene Displayschrift."

Bei dem Wort entworfene gibt es einen Verweis zu Entwerfen, also weiter zur Seite 2073.

"Entwerfen - Wieviel hat Gestaltung mit Werfen zu tun? Wer wirft wohin? Wirft der Gestalter sich in die Arbeit?"

So beginnt Juli Gudehus ihre Überlegungen zu diesem Begriff. Auch weitere Autoren werden zitiert, zum Beispiel der berühmte Aufklärer und Kunsthistoriker Johann Winckelmann: "Man muss begeistert entwerfen, aber behutsam ausführen."

Behutsam - ein passendes Stichwort, denn behutsam muss der Leser definitiv mit dem Lesikon umgehen. Die Seiten sind hauchdünn und erinnern in ihrer Zartheit an die Bibel. Auch der Inhalt hat biblische Ausmaße, umfasst er doch die gesamte visuelle Kommunikation. Und die findet sich überall, sagt Gudehus. "Visuelle Kommunikation ist eigentlich alles, was uns jeden Tag an zweidimensionaller Information umgibt." Dazu zählen beispielsweise Etiketten auf Lebensmitteln, Zeitungen, Werbung, Plakate, Webseiten, aber auch Leitsysteme im Flughafen, Verkehrsschilder oder Warnhinweise. "Es ist total faszinierend. Obwohl wir sind die ganze Zeit davon umgeben, ist den meisten Menschen überhaupt nicht bewusst, dass es überhaupt eine solche Disziplin gibt."

Jägerin und Sammlerin der Begriffe

Portraitfoto der Grafikdesignerin und Autorin Juli Gudehus (Foto: Rolf Schulten)
Sammlerin Juli GudehusBild: Rolf Schulten

Zu dieser Disziplin zählt Juli Gudehus in ihrem Nachschlagewerk nicht nur naheliegende Fachbegriffe, sondern auch alle möglichen Alltagsphänomene wie Nachtschicht oder Liebe, die einen Designer ebenso beeinflussen, wie jeden anderen Menschen auch. Ein Mammutprojekt also, an dem die Grafikdesignerin Juli Gudehus auf den Tag genau neun Jahre gearbeitet hat, obwohl sie weder einen Auftrag noch einen Verlag hatte. Sie war einfach überzeugt von ihrer Idee.

"Überzeugen - Wenn Sie den Kunden nicht durch Ihre persönliche Ausstrahlung überzeugen können, haben Sie kaum eine Chance, einen Auftrag zu bekommen.“ Aus Designers Manual, Basiswissen für selbständige Designer.

"Wer andere überzeugen will, muss selbst begeistert sein." Spruch auf Klopapier von Zewa

Juli Gudehus ist eine Jägerin und Sammlerin. Unermüdlich jagte sie neun Jahre lang Begriffen hinterher und sammelte sowohl eigene Texte, als auch Zitate aus Romanen, Gedichten, Ausstellungskatalogen, Zeitungsartikeln oder Werbeplakaten. Und dann stiftete sie noch Freunde, Verwandte und sogar Fremde an. "Es haben jetzt unfassbare 627 Leute für mich geschrieben." Im Nachhinein sei sie selbst verwundert, all diese Autoren rekrutiert zu haben. "Ich habe zu denen nur gesagt: Schreib einfach auf, was du für richtig hältst und was dir Spaß macht. Das können kurze oder lange Texte sein, trocken geschrieben oder lustig - egal."

Ursprünglichste Art der Wissenschaft

'Lesikon der visuellen Kommunikation', ein assoziatives Nachschlagewerk. 2010 im Verlag Herman Schmidt Mainz erschienen.
Ein Buch der Superlative: 3000 Seiten, 508 Kapitel, 9704 BegriffeBild: Verlag Hermann Schmidt Mainz

Als Lexikon eignet sich das Lesikon also nicht. Es ist noch nicht einmal strikt alphabetisch geordnet, sondern nach Wortgruppen. Man könnte auch Kapitel dazu sagen. 508 solcher Wortgruppen gibt es, sie tragen verspielte Titel wie "Narrenfreiheit", "organisiertes Verbrechen" oder "Schluss mit lustig". Unter dem Kapitel "nichts mehr da" finden sich Begriffe wie "sinnlos", "ohne Titel", "nicht spruchreif" oder "Nullnummer". Die Wortgruppen folgen einer undurchschaubaren Dramaturgie und verführen doch zum Umherstreifen im Lesikon. Amüsante Anregungen nicht nur für Fachleute, sondern für jeden verspielten Leser, der mehr über Design, Designgeschichte oder einfach nur über das Leben selbst erfahren will.

Selbstverständlich sei ihr Lesikon trotz aller Subjektivität der Texte wissenschaftlich, sagt Gudehus, wenn auch auf eine ungewöhnliche Art. "Ich habe mich in letzter Zeit mit vielen Leuten unterhalten, die ernsthaft wissenschaftlich arbeiten und muss immer feststellen, dass das Lesikon eigentlich die ursprünglichste Art ist, Wissenschaft zu betreiben. Nämlich indem man sammelt und vergleicht."

14.000 Stunden Arbeit stecken in ihrem Nachschlagewerk, das nicht nur sie, sondern auch ihren Computer an die Grenzen der Speicher- und Verarbeitungsprozesse getrieben hat. "Jetzt, wo das Buch fertig ist, fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen", sagt Juli Gudehus und hat zu diesem Gefühl auch gleich noch die passenden Zahlen. "Ein Lesikon wiegt etwas über 2 Kilo, mit der ersten Auflage sind also rund 6 Tonnen zusammenkommen, die ich jetzt in die Welt gesetzt habe." Und dieses Gewicht entspreche ungefähr "dem Gewicht des Steins, der mir da vom Herzen gefallen ist."

Autorin: Nadine Wojcik

Redaktion: Gabriela Schaaf

Juli Gudehus: Das Lesikon der visuellen Kommunikation. Hermann Schmidt Verlag Mainz. 3000 Seiten; 100 €