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Das Kuschel-Festival

Kay-Alexander Scholz9. Februar 2004

Schöne Berlinale-Zeit! Nicht jedoch für einen aus der cineastischen Mittelschicht. Der ist zwar feuilletonistisch und universitär gebildet, findet aber trotzdem keinen richtigen Zugang zum Fest. Und das hat seine Gründe.

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Zum Aufwärmen geht's ab ins KinoBild: AP

Die Berliner Filmfestspiele sind geografisch gesehen das nordöstlichste Filmfestival der A-Klasse. Diese Lage hat wenig Auswirkungen auf das Filmprogramm und viele auf das Festivalklima. 1978 beschloss der damalige Berlinale-Leiter, das Festival vom Frühsommer auf den Februar zu verlegen. Das war zwar eine aufmerksamkeitsökonomisch gesehen sinnvolle Tat - kein anderes europäisches Festival lädt im Winter ein, nur der Oscar wird immer auch im ersten Jahresviertel verliehen - aber zu welchem Preis? Im Februar ist es in Berlin zumeist bitterkalt. Wohl deshalb ist die Berlinale ein reines Inhouse-Festival - ohne Flaniermeile, dafür aber mit hohem Kuschelfaktor.

Frostschutzmittel im Kinosaal

Seit ein paar Jahren ist bei nicht wenigen Filmliebhabern das intellektuelle Schwarz am Körper einem freudigen Bekenntnis zur Buntheit gewichen. Und gibt es etwas effektiveres als Winteraccessoires, um sich bunt zu kleiden? Mützen, Schals, Handschuhe, Strickteile zum Wickeln. Da Garderoben mit Pfandmarken noch immer einen spießigen Ruf haben, wandert dieses Buntzeugs gern mit in den Kinosaal und wird - zusammen mit Wollmantel oder Daunenjacke - um den Sitzplatz herum verteilt. Wer dann einen Mittelplatz hat und relativ spät kommt, muss über Berge dieser "Frostschutzmittel" steigen und sich erboste Kommentare anhören, weil man auf den teuren Gucci-Schal getreten ist. Aber man soll ja nicht jammern (was man den Berliner immer vorwirft), sondern das Positive sehen: Wie zuhause auch heißt Filme gucken bei der Berlinale gute Unterhaltung mit griffbereiter "Wolldecke" zum Kuscheln.

Schneeschauer in Berlin am Sonntag, 8. Februar 2004 Berlinale
Kalt ist's in Berlin !Bild: AP

Aber bis dahin ist es ein langer Weg. Die erste Hürde ist die Filmauswahl, also das Erstellen der Favoritenliste. Zum Glück hilft dabei das Berlinale-Magazin: Auf A4 gedruckt, alle Filme kurz beschrieben. Der Berlinale-Berliner begibt sich damit gern auf eine der zahlreichen Café-Latte-Inseln um, erworbenes Cineastentum öffentlich zur Schau stellend, eine Wunschliste zu markern. Dabei steigt bei vielen der erste Frust auf, weil man erneut vergessen hat, eine Akkreditierung an Land zu ziehen. Der Einlass zu den A-Events wird also versperrt bleiben. Bleibt einzig die Hoffnung, die Stars auf dem roten Teppich vorm Berlinale-Palast fantypisch anzukreischen, sofern man rechtzeitig den wärmenden Schal vom Mund geschoben hat.

Realsozialistische Menschenschlangen

Der Kartenkauf ist eine Tortur. Mit Programm und Marker bewaffnet, fährt man zu eine der Berlinale-Kassen, verzweifelt kurz angesichts einer realsozialistisch anmutenden Menschenschlange, nimmt dann doch Warteposition 128 ein und steht sich die Beine in den Bauch. Vorher allerdings schmilzt der Schnee an den Füßen zu kleinen Pfützchen um die Schuhe und hinterlässt unschöne weiße Ränder auf dem Oberleder. Spätestens jetzt sollte man einen Realitätsabgleich einplanen.

Warteschlange zur Euroeinführung
Wer zur Berlinale will, muss Schlange stehen!Bild: AP

Für viele Filme sind derweil nämlich die Depots aufgebraucht, was die Kinokarten-Fachkraft mit roten Strichen auf der Programmübersicht an der Kassenscheibe kund tut. Das wiederholt sich während einer normalen Wartedosis ein paar Mal. Ist man dann endlich bei der Kinokarten-Fachkraft angekommen, wird gerade auch der letzte Listenfilm gesperrt. Umsonst gewartet zu haben, kommt gar nicht in die Tüte und so nimmt man halt irgendwelche Karten. Für irgendwelche B-Movies, bei denen man sich nachher immer fragt, warum der so viele Zuschauer angezogen hat. Bis man dann den einen und die andere aus der Warteschlange wieder erkennt. Nun, positiv betrachtet, bringt dieses Warteschlange-Prinzip einen hohen Flirtfaktor mit sich - und Aussicht auf Kuschelerlebnisse.

Ist Weimar niveauvoller?

Der immer missionarisch tätige Hauptstädter lädt gern auch Freunde aus der Provinz zum Berlinale-Metropolen-Erlebnis ein. Das kann ziemlich in die Hose gehen. Aus obigen Gründen hat man nur Karten für einen lesbischen Piratenfilm bekommen - der aber gut sein soll. So führt man einen Gast aus der nicht minder Kultur beflissenen Stadt Weimar ins Berlinale-Kino und darf miterleben, wie genderübergreifendes Kino mit hormonell gezüchteten Bärtchen über nicht so zarten Damenoberlippen daherkommt. Da die Tonspur zu wünschen übrig lässt, die Klimanlage schlecht pustet und Wolldecken ähnliches Material zur Verfügung steht, kämpft man mit dem Dämmerschlaf. Nach dem Abspann fragt man vorsichtig den Nicht-Berliner, wie es denn gewesen sei? Beim Studentenfilmfest an der Uni in Weimar, hätte die Jury den Film nicht gezeigt, so die stolze Antwort. Autsch.

Eine andere Berlinale-Hoffnung ist die Aussicht auf Promikontakte. A-Promis zu treffen, kann sich ein Berlinale-Mittelschichtler abschminken. B- und C-Promis allerdings sind erlebbar. Auch das ist allerdings nicht ohne Risiko. Weil man wieder nur Restkarten erstanden hat, sitzt man erneut in einem Fetischfilm. Dieses Mal zeigt der Regisseur, wie sich Kalifornier alles mögliche durch Ohrläppchen, Mund und sonstige Hautareale stechen lassen. Der eigene Freundpartner unter der Nachbarwolldecke findet das überraschend so gut, dass er hinterher persönlich Kontakt zum Filmemacher findet und einen Tag lang nicht mehr gesehen wart. Promis zum Anfassen, hoher Kuschelfaktor - alles schon passiert!


Mein schönstes Berlinale-Erlebnis? Vor drei Jahren. Einer Eingebung folgend fuhr ich Sonntag abend zum Abschlussfilmevent, traf Freunde, die in der Schlange einen A-Platz hatten, und kam so an Tickets für "2001". Gleich im Anschluss fand die Preisverleihung statt - vor der Leinwand, die gerade noch das Kubrick-Meisterwerk gezeigt hatte. So viele Glückshormone waren selten.

Eröffnungstag Berlinale 2002 Berlinale Palast
Geschafft!Bild: presse