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Neue Krawalle

Das Interview führte Ercin Özlü25. Oktober 2006

Vor dem Jahrestag der Unruhen in Frankreich mehren sich die Gewalttaten den Vorstädten. DW-WORLD.DE sprach mit dem Politologen Henrik Uterwedde über die Maßnahmen der Regierung und die anhaltende soziale Kluft.

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Professor Dr. Henrik Uterwedde
Henrik UterweddeBild: Deutsch-Französisches Institut

DW-WORLD: Am Freitag (27.10) jähren sich die gewalttätigen Unruhen in den Banlieues. In den vergangen Tagen standen wieder Autos in Flammen. Der Geheimdienst der Polizei warnt vor einer Eskalation…

Henrik Uterwedde: Es gab wiederholt Konfrontationen, darunter auch Vorfälle, wo Polizisten, die eine Kontrolle vornehmen wollten, bewusst in den Hinterhalt gelockt worden sind und von jugendlichen Banden massiv angegriffen wurden. Da sind moralische Barrieren gegenüber Gewaltbereitschaft niedergerissen worden. Und die sind sehr schwer wieder aufzubauen.

Sind diese Übergriffe Vorboten einer neuen Gewaltwelle?

Zumindest kann man das nicht ganz ausschließen. Es gibt Anzeichen dafür, dass das Klima in den Vorstädten weiterhin explosiv ist. Es gibt Kenner der Materie, wie ein Bürgermeister in den Ballungsräumen, der sagt: Wir sitzen auf einem Pulverfass. Das liegt daran, dass die Ursachen der Krise nicht beseitigt worden sind. In zwölf Monaten kann man nicht 30 Jahre krisenhafter Entwicklung in den Ballungsgebieten wegwischen.

Welche Ursachen hat die Frustration der Jugendlichen?

Da ist natürlich erstmal eine tiefe soziale Krise. In den Ballungsgebieten in Frankreich zählt man insgesamt über 700 Brennpunktviertel, in denen knapp fünf Millionen Personen wohnen. Diese Gegenden stellen "Monokulturen" dar. 40 Prozent der Jugendlichen in den Ballungsgebieten sind ohne Schulabschluss. Die Arbeitslosenquote ist mit 20 Prozent doppelt so hoch wie im übrigen Frankreich. Es gibt eine Zusammenballung sämtlicher sozialer Probleme des Landes in diesen Vorstädten. Dazu kommt noch die Integrationskrise. Vor allem Jugendliche aus Immigrantenfamilien werden bei der Arbeitssuche diskriminiert. Da reicht es nicht aus - was Innenminister Sarkozy sehr populistisch tut - die Jugendlichen zu kriminalisieren und mit einer "Law and Order"-Politik Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.

Die Regierung hatte nach den Unruhen im vergangenen Jahren mehrere Initiativen angekündigt. Welche politischen Maßnahmen wurden seitdem ergriffen?

Ausgebrannte Busse nach erneuten Unruhen
Ausgebrannte Busse nach Unruhen am SonntagBild: AP

Es gab schon vor 2005 sehr sinnvolle Programme, die versucht haben die sozialen Konfliktherde zu entschärfen. Nach den Krawallen gab es vier Ansatzpunkte. Man hat zum einen versucht, die Beschäftigungschancen der Jugendlichen in diesen Ballungsgebieten zu verbessern. Zum anderen gibt es Maßnahmen, die gegen Diskriminierungen ethnischer Art gerichtet sind. Dann gibt es einen sehr teuren Bereich: Wohnungsbaupolitik. Man hat ein immenses Problem mit der Ansammlung von Wohntürmen. Es wurde ein wohn- und städtebauliches Renovierungsprojekt aufgelegt. Beim vierten Punkt geht es um Repression. Natürlich kann es der Staat nicht zulassen, dass rechtsfreie Räume entstehen. All diese Maßnahmen, werden aber keine schnellen Erfolge haben können.

Gehen die Maßnahmen in die richtige Richtung?

Ja, ich denke schon. Die sichtbarsten Ergebnisse liefern die Maßnahmen zur Wohnraummodernisierung. Bei den anderen Initiativen braucht es seine Zeit. Die Beschäftigung ist natürlich abhängig vom wirtschaftlichen Umfeld. Das ist im Moment nicht besonders gut. Schulversagen ist ebenfalls ein großes Problem. Wir wissen, dass die Beschäftigungschancen mit dem Schulerfolg steigen. Um gegen Schulversagen anzukämpfen, reichen nicht ein paar mehr Lehrer.

Inwiefern wird die Diskriminierung der Jugendlichen angegangen?

Sie können Diskriminierung verbieten. Aber versuchen Sie mal, den Kleinunternehmer, der Vorbehalte gegenüber Immigranten hat, in seiner Mentalität zu ändern. Es gibt aber Beispiele von positiver Diskriminierung. Eine der größten Eliteuniversitäten das "Sciences Po", das Politikwissenschaftsinstitut in Paris, hat mit einigen ausgewählten Gymnasien in Brennpunktvierteln eine Art Vertrag abgeschlossen. Sie erlaubt einem gewissen Kontingent von Schülern aus diesen Gegenden ein Studium.

Die Polizeigewerkschaft "Action Police" hat davor gewarnt, dass die Gewalt einen islamistischen Anstrich erhalte…

Von den letztjährigen Unruhen ausgehend, kann man das nicht sagen. Im Gegenteil, es gab einige Vertreter der islamischen Gemeinden, die zu wichtigen Ansprechpartner der Bürgermeister wurden, weil sie noch als einzige Einfluss auf die Jugendliche hatten. In einem Pulverfass ist so eine Entwicklung nicht völlig auszuschließen. Im Moment sehe ich aber keine Gefahr in dieser Richtung.

Henrik Uterwedde, Jahrgang 1948, ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg und lehrt Politikwissenschaften an der Universität Stuttgart.