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"Das großartige Projekt der EU scheitert mit einem Türkei-Beitritt"

Das Interview führte Steffen Leidel6. Dezember 2004

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler warnt im DW-WORLD-Interview vor einem Beitritt der Türkei zur EU. Der Rahmen europäischer Politik würde gesprengt und die EU zerstört.

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Hans-Ulrich Wehler: Reislamisierung in der Türkei wird unterschätztBild: dpa

DW-WORLD: Herr Wehler, in einem Beitrag haben Sie geschrieben, ein Beitritt der Türkei würde vitale Interessen verraten und die EU zerstören. Sie haben von einem "verblendeten Harakiri" gesprochen. Schröder und Chirac haben sich für Verhandlungen zu einem Eu-Beitritt ausgesprochen. Haben die denn nach Ihrer Logik selbstmörderische Absichten?

Nein, aber beide gehören zu dem schwächsten Geschlecht an Europapolitikern, das es im letzten halben Jahrhundert gegeben hat. Man braucht das nur mit Vorgängern mit Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Giscard d'Estaing zu kontrastieren, um das zu sehen. Die Haltung Schröders und Chiracs ändert nichts daran, dass in Deutschland sich konstant 66 Prozent und in Frankreich 68 Prozent der Bevölkerung bei Umfragen gegen den Beitritt aussprechen.

Nun bin ich nicht der Meinung, dass die Politik immer haargenau demoskopischen Umfragen folgen sollte, aber da tut sich eine bedenkliche Kluft auf im Sinne eines beträchtlichen Demokratiedefizits, wenn leitende Politiker sich in diesem Stil über die Mehrheitsmeinung in ihren Ländern hinwegsetzen. Ich habe mich an diese Diskussion ja auch nur beteiligt, weil ich mich schwarz ärgere, weil so eine grundsätzliche Entscheidung gegen den bisherigen Charakter der EU sozusagen in einigen Hinterzimmern ohne breite öffentliche Debatte geführt worden ist.

Was ist ihr Hauptargument gegen einen EU-Beitritt der Türkei?

Ich bin der Meinung, dass dieses für meine Generation großartige Projekt der EU in dem Augenblick scheitert, wenn zu den 25 bisherigen Mitgliedern – in drei bis vier Jahren werden es sogar 28 Mitglieder mit Rumänien, Bulgarien und Kroatien sein – auch noch die Türkei mit dann mindestens 90 Millionen muslimischen Einwohnern hinzukommt. Das sprengt unter jedem Gesichtspunkt den Rahmen europäischer Politik.

Warum setzen sich Schröder und Chirac denn so vehement für einen Beitritt ein?

Das ist eine schwere Frage. Vor nicht all zu langer Zeit haben Schröder und Außenminister Joschka Fischer intern geäußert, 65 Prozent aller Argumente sprächen gegen den Beitritt. Das erste ist, es gibt einen vehementen amerikanischen Druck. Die USA haben immer ein bewährtes NATO-Mitglied wie die Türkei an Europa anbinden wollen. Nachdem die NATO-Befürchtung einer russischen Expansion entfallen ist, sucht man nun einen Verbündeten für derzeitige und künftige Konflikte im Nahen Osten.

Die Türkei hat ein riesiges, vorzüglich ausgebildetes Heer und wenn man das etwas ironisch ausdrücken will, sucht man einen Landsknechtshaufen, der im Nahen Osten eingesetzt werden kann. Dieser amerikanische Druck ist gewachsen seitdem Schröder allein unter dem Primat des Wahlkampfes von sich aus einen deutschen Weg der Amerikakritik vor dem bevorstehenden Irakkrieg eingeschlagen hat. Jetzt ist Deutschland erpressbar im Hinblick auf neue Soldaten in Afghanistan, Hilfeleistung für den Irak und eine der amerikanischen Forderungen ist geblieben, der Beitritt der Türkei.

Welche Rolle spielen denn wirtschaftliche Interessen?

Es hat sich in einigen Bereichen der Großwirtschaft die etwas abenteuerliche Illusion ausgebreitet, die Türkei sei ein Großmarkt der Zukunft. Jeder Historiker weiß, dass sich diese Illusion seit dem 19 Jahrhundert erst gerichtet hat auf den riesigen chinesischen Markt, aus dem Hundert Jahre lang nichts geworden ist. Jetzt erst beginnt er ein solcher zu werden. Dann hat er sich gerichtet auf den riesigen afrikanischen Markt, der bis heute nicht ein solcher geworden ist.

Wirtschaftsstatistik ist ganz unwiderlegbar: Nur entwickelte Länder sind füreinander die besten Handelspartner. Deshalb geht auch 90 Prozent des deutschen Exports in die EU und die USA. Länder die an der Schwelle sind von Entwicklungsland zur höheren Entwicklung wie die Türkei absorbieren nur geringe Mengen. Aber Schröder kann sich als Freund der deutschen Wirtschaft darstellen.

Welche innenpolitischen Ziele werden verfolgt?

Inzwischen haben 600.000 Türken die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Meinungsumfragen ergeben, dass ungefähr 80 Prozent bei der nächsten Bundestagswahl rot-grün stimmen werden. Das wären rund 480.000 Stimmen. Da beim letzten Mal der Abstand zwischen Schröder und dem CSU-Kandidaten Edmund Stoiber unter dem Strich etwas mehr als 6000 Stimmen betrug, sagen die SPD-Politiker, wir können nicht darauf verzichten, 480.000 Stimmen an uns zu binden.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie wahrscheinlich ein EU-Beitritt der Türkei ist und warum Wehler den Kommissionsbericht zur Türkei für "schlampig" hält.

Wie wahrscheinlich ist ein EU-Beitritt der Türkei?

Letztlich muss die Aufnahme einstimmig beschlossen werden. Es ist nicht vorstellbar, dass 28 Staaten geschlossen, pro-türkisch optieren. Bestimmte Länder, die in früheren Zeiten Erfahrung mit türkischer Besatzungsherrschaft gemacht haben, und Länder, die Furcht haben, dass ihre EU-Ressourcen, dann noch mehr geschmälert werden, werden dagegen stimmen.

Können Sie einem Beitritt der Türkei denn nichts positives abgewinnen? Viele sehen doch Anzeichen der Veränderung. So gab es zahlreiche Anpassungen von Gesetzen an europäische Standards. Billigen sie der Türkei hier keine Chance zu Veränderung zu?

Natürlich wird man einem Land eine solche Chance zubilligen. Aber zunächst sind das papierene Gesetze auf der allerobersten Ebene der Legislative. Damit ist noch nichts gesagt, was davon in der Bürokratie, in der Justiz, in der Polizei, im Gerichtswesen im Alltag ankommt. Da sind große Zeitspannen mit denen man zu rechnen hat und es ist abenteuerlich, dass dieser schlampige Kommissionsbericht aus Brüssel davon ausgeht, dass man schon nach zwei Jahren, länger ist diese Reformphase ja nicht, genau sagen kann, was alles auf einen guten Wege gebracht worden ist.

Wieso schlampig?

Nirgendwo wird die Reislamisierung unter Erdogan erwähnt. 60.000 Vorbeter wurden neu eingestellt, mit staatlicher Alimentierung. Keine Reformgesetze dagegen, dass jede zweite Frau gegen ihren Willen verheiratet wird an einen Mann, den sie vorher nicht gekannt hat. Kein Reformgesetz dagegen, dass jeder fünfte Mann mehrere Frauen hat, eine zivilrechtliche, die andere durch die so genannte Moscheetrauunng als Konkubinen getraut.

Kein Argument dagegen, dass jeder zweite Mann ein Brautgeld zahlt und die Frau als sein Eigentum betrachten darf, kein Argument dagegen, dass die christlichen Minderheiten in der Türkei, die unter einem vehementen Islamisierungdruck stehen, noch immer nicht Immobilienbesitz haben dürfen, noch immer nicht eigene geistlich haben, geschweige denn ausbilden dürfen. Die Geistlichen, ob die katholischen sind oder griechisch-orthodox, protestantisch werden als Konsulatsbeamte bestimmter Länder geführt. Und da ist die Regierung bisher völlig unbeweglich geblieben.

Was ist ihr Vorschlag?

Meine Wunschvorstellung wäre die, dass sich keine einheitliche Meinung herstellen lässt und dass ein paar Regierungschefs den Mumm haben zu sagen, die Türkei ist ein nicht-europäischer kleinasiatischer muslimischer Großstaat. Den wollen wir nicht als künftigen Führungsstaat in der EU haben, als denjenigen der die gesamte Nahostpolitik der EU definiert, der in Straßburg wegen der großen Bevölkerungszahl die größte Fraktion stellt, die ja wegen der religiösen Bindung nicht einfach auf Christdemokraten und Sozialdemokraten aufgeteilt werden kann.

Meines Erachtens müsste in die Verhandlungen Agenda eine Vielzahl von Punkten aufgenommen werden, wie die Gleichberechtigung der Frau, die Diskriminierung von Minderheiten, sowie das ungelöste Kurdenproblem. Die müssten Teil der Verhandlungsmasse sein und dann wird man sehen, wie lang das dauert.

Hans-Ulrich Wehler (geboren 1931 in Freudenberg bei Siegen) ist einer der bekanntesten Historiker in Deutschland. Er studierte Geschichte und Soziologie an den Universitäten Köln, Bonn und Athens/Ohio (USA). Bis zu seiner Emeritierung 1996 lehrte Wehler an den Universitäten in Köln, Bonn und Bielefeld. Außerdem war er als Gastprofessor an den Eliteuniversitäten in Harvard, Princeton und Stanford tätig.