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Kalkül nicht aufgegangen

26. April 2010

Der Ärger um das "Kruzifix-Interview" von Niedersachsens Sozialministerin Özkan zeigt: Die Fehler der deutschen Einwanderungspolitik lassen sich nicht im Schnellverfahren ungeschehen machen. Baha Güngör kommentiert.

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Themenbild Kommentar
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Baha Güngör
Baha Güngör


Das hatte sich der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff sicherlich anders vorgestellt. Ausgerechnet die CDU mit "christlich" vor "demokratisch" im Parteinamen wollte der politischen Konkurrenz ein Schnippchen schlagen und berief mit Aygül Özkan als erste Partei eine deutsche Staatsbürgerin türkischer Herkunft in ein Landeskabinett. Offenkundig wollte man so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens die CDU als Partei der Toleranz und Weltoffenheit präsentieren und zweitens als Partei, die für türkischstämmige deutsche Wähler durchaus wählbar ist. Immerhin sind das Hunderttausende Stimmen, die bislang nicht an die CDU gegangen sind.

Aber auf die Stimmen der bisherigen CDU-Wähler wollte Wulff natürlich nicht verzichten, so dass ihn der Vorstoß seines neuen Stars im Kabinett gegen Kruzifixe und andere religiöse Symbole in öffentlichen Schulen kalt erwischt hat. "Entschuldigungen" und "Klarstellungen" folgten sofort, in Niedersachen würden auch künftig keine Kruzifixe aus Klassenzimmern entfernt, und im Gespräch mit Frau Özkan seien alle "Irritationen" beseitigt worden, hieß es vom Ministerpräsidenten.

Hohe Hürden für türkischstämmige Politiker

Nicht nur der unüberlegte Vorstoß der designierten Ministerin zeigt, dass die Rechnungen, die in Hannover und sicherlich auch in Berlin gemacht worden sind, erst einmal nicht aufgehen. Um mit der Beliebtheit - beziehungsweise Unbeliebtheit - der Unionsparteien bei den Türken anzufangen: Sie werden in absehbarer Zeit nicht eine Partei wählen, die die Heranführung der Türkei an die EU erschwert und die türkische Kultur sowie den Islam als Volksreligion der Türken für nicht kompatibel mit den christlich-jüdischen Wurzeln Europas erklärt.

Und dass die Berufung von Aygül Özkan viel über die Modernität der CDU aussagt, ist zweifelhaft. Die politische Blitzkarriere der gebürtigen Hamburgerin kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Christdemokraten türkischstämmigen Migrantenkindern bislang kaum die Möglichkeiten zum politischen Reifeprozess in ihren Reihen eingeräumt haben. Und auch die Sozialdemokraten haben sich bislang bei diesem Thema nicht mit Ruhm bekleckert. Ihre Abgeordneten aus jenem Personenkreis mussten immer wegen ihres anders klingenden Namens im Vergleich zu "normalen" Deutschen weitaus höhere Hürden überspringen, bevor sie kandidieren und auch in die deutschen Parlamente einziehen durften. Sehr positiv und beispielhaft gehen da die Grünen voran. Deren Ko-Vorsitzender Cem Özdemir wird wohl kaum als "türkisches Migrantenkind" bezeichnet, wenn er sich als Chef einer politischen Kraft äußert, in deren Reihen er schon seit früher Jugend aktiv war.

In gewisser Weise ist der verstolperte Start der designierten neuen Sozialministerin Niedersachsens symptomatisch für die Fehleinschätzungen der deutschen Einwanderungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten. Es hat nämlich viel zu lange gedauert, bis sich die großen deutschen Parteien dazu durchringen konnten, Deutschland als Einwanderungsland zu akzeptieren. Schon längst aber ist Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft auf der Basis von Grundgesetz und modernen Werten.

Autor: Baha Güngör
Redaktion: Dеnnis Stutе