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Das Berliner Weglaufhaus

20. Januar 2011

Seit 25 Jahren kümmert sich in Berlin die Einrichtung Papatya um Mädchen, die von Zwangsheirat und Gewalt bedroht sind.

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Symbolbild Zwangsheirat: Frau mit gebundenen Händen (Foto: Ingrid Meyerhöfer)
Bild: Ingrid Meyerhöfer

Dilan, Aishe, Serap und Djana sitzen auf Bänken am langen Holztisch in der gemütlichen Küche, singen, hören Musik und albern herum. Unschuldig, mädchenhaft wirken die drei. Tatsächlich ist die Küche Teil von Papatya, sind die Mädchen hierher geflohen vor drohender Abschiebung, massiven Schlägen, Zwangsheirat und Vergewaltigung. Gut versteckt liegt die zweigeschossige Wohnung irgendwo in einem Berliner Hinterhaus. Niemand soll die Mädchen finden. Deshalb haben alle in dieser Geschichte nur Vornamen, manche sind erfunden.

Die meisten Mädchen bei Papatya sind minderjährig, werden von ihren Familien bedroht und gesucht. Jährlich fragen einige hundert via Internet um Rat, 60-70 junge Frauen wagen den Schritt, ihre Familien zu verlassen, finden im Weglaufhaus Unterschlupf. In der Regel sind sie zwischen 15 und 20 Jahren alt. Sie flüchten von sexuellem Missbrauch, Gewalt durch Väter und Ehemänner oder drohender Zwangsverheiratung. Ungefähr ein Viertel der Mädchen kehrt nach kurzer Zeit in die Familien zurück, die anderen bekommen durch Papatya die Chance, ein eigenes Leben ohne Gewalt aufzubauen.

Chance auf ein eigenes Leben

Zum Beispiel Dilan. Sie ist Türkin, war schwanger und wollte heimlich abtreiben, was die Mutter bemerkt hat. Sie verrät die Tochter an den Vater, der sein Kind schlägt und wüst beschimpft. Erst als er Dilan nach Köln bringen will, um sie dort zwangsweise zu verheiraten, flüchtet die junge Frau zu Papatya. Andere Jugendeinrichtungen hätten sie nicht mehr aufgenommen, Dilan ist bereits 21. Doch Papatya wird vom Berliner Senat pauschal finanziert, muss keine Rücksprache mit Jugend-, Sozial- oder Ausländeramt halten.

Werbeplakat der Einrichtung "Papatya": Junge Muslima mit Balken über den Augen (Foto: Eva Kultus)
Werbeplakat der Einrichtung "Papatya"

Die Hälfte der rund 60 Mädchen, die hier jährlich Zuflucht suchen, stammen aus der Türkei, die anderen aus dem Libanon, Ex-Jugoslawien, Palästina, Marokko, Aserbaidschan oder Pakistan. Viele leiden unter Mager- oder Esssucht, haben Selbstmordversuche hinter sich, Schlafstörungen und Ängste. Oft ähneln sich die Geschichten von Zwang, Missbrauch und Gewalt, weiß Leiterin Eva aus Erfahrung: "Ihnen wurde immer gesagt, du bist das schwarze Schaf, nur du protestierst, guck dir die anderen an, die machen alles mit." Wenn die Mädchen zu Papatya kommen, merken sie, dass sie nicht alleine sind, dass auch andere diesen Schritt gemacht haben. Vor allem das gibt ihnen Mut und Selbstsicherheit.

Abschreckendes Beispiel

Allerdings geht dieser Schritt nicht immer gut aus, wie das Schicksal von Hatun Sürücü zeigt. Die 23-jährige Türkin wurde 2003 in Berlin auf offener Straße von ihrem Bruder erschossen, nur weil sie ein anderes, ein moderneres Leben wollte. "Seit damals flüchten wesentlich weniger Mädchen zu uns", erzählt Leiterin Eva. Sie befürchtet, dass viele wegen des Mordes an Hatun Sürücü jetzt Angst haben. "Ich denke, es war eine Botschaft an viele, die sich überlegen wegzugehen, so kann's dir auch gehen."

Neben Leiterin Eva arbeiten noch sechs weite deutsche, türkische und kurdische Mitarbeiterinnen bei Papatya. Sie versorgen die Mädchen mit Kleidung und Schulsachen, vermitteln Gespräche mit den Eltern, sind bei Behördengängen und Gerichtsverhandlungen dabei. Manchmal wurden die Frauen bei diesen Terminen selbst bedroht. Von der Pistole an der Schläfe bis zur Entführung der Mädchen aus dem Gerichtssaal und Morddrohungen ist alles vorgekommen. Die Frauen haben daraus gelernt. Zwei arabisch aussehende Jungen, die vor der Papatya-Wohnung durch das Treppenhaus laufen, reichen aus, um Anne und Barbara in Alarmbereitschaft zu versetzen. Zum Glück ist es nur ein blinder Alarm, die Jungs wollten zu einer Nachbarin.

Vergewaltigung mit Zustimmung der Eltern

Doch Aishe, die sich in die Küche zurückgezogen hat, Abendbrot vorbereitet, bleibt nervös. Auf keinen Fall will sie nach Hause zurück. Ihre Eltern haben die 15-Jährige vor einem Jahr zwangsweise in der Türkei mit einem Cousin verheiratet - die einfachste Art ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland zu verschaffen.

In der Hochzeitsnacht vergewaltigt er Aishe, mit Billigung der Eltern. "Es war so eklig, ich hab gesagt, mein Körper ist jetzt bestimmt voll mit Dreck", erinnert sich das Mädchen. Nach der Hochzeitsnacht überlegt Aishe, sich umzubringen, doch ein bisschen Selbsterhaltungstrieb ist ihr geblieben. Eines von fünf Mädchen, das zu Papatya kommt, hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Psychologin Cornelia schließt mit ihnen deshalb Anti-Suizidverträge ab. Im Vertrag verpflichten sich die Mädchen, bis zu einem bestimmten Datum keinen weiteren Versuch zu unternehmen. Sollten sie diesen Zeitraum nicht schaffen, versprechen sie außerdem, sich vor der Tat zu melden. Ein Mittel, das bislang immer funktioniert hat.

Kinder aus Multiproblemfamilien

Schlagende tyrannische Väter, unterdrückte und gequälte Frauen und Mädchen - dieses Bild entspricht für viele dem gängigen Vorurteil, das sie über Muslime in Deutschland haben. Deshalb betonen die Papatya-Frauen immer wieder, dass die Mädchen, die zu ihnen kommen, absolute Ausnahmen sind. Sie stammen aus so genannten Multiproblemfamilien. Ihre Väter und Mütter kämpfen häufig mit Arbeitslosigkeit, Drogen- oder Alkoholsucht und zerrütteten Beziehungen. Den Mädchen bleibt daher als letzte Konsequenz nur das Weglaufhaus und ein neues eigenes Leben aufzubauen.

Autorin: Svenja Pelzel
Redaktion: Kay-Alexander Scholz