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"Dann musst du dich entscheiden"

Bettina Marx, Tel Aviv5. Oktober 2003

Attentate, Vergeltungsschläge. Seit Jahren bringt die Spirale der Gewalt im Nahen Osten Tod und Leid zu Israelis und Palästinensern. Hinterbliebene auf beiden Seiten wollen diesen Teufelskreis des Hasses durchbrechen.

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Waffen als zweifelhafter SchutzBild: AP

"Wenn der Todesengel in eine Familie kommt, dann zerstört er sie vollkommen." Mit diesen Worten beginnt Rami Elchanan seine Geschichte. Es ist eine Geschichte von Tod und Gewalt und Versöhnung. Es ist eine Geschichte aus Israel. Der Todesengel, der die Familie des Jerusalemer Grafikers zerstört hat, war ein palästinensischer Selbstmordattentäter. Im September 1997 sprengte er sich in der Fußgängerzone von Jerusalem in die Luft und riss dabei Elchanans 13-jährige Tochter Smadar mit sich in den Tod.

"Was man am ehesten erwartet, ist Hass"

Für Elchanan war es, als sei sein Leben zu Ende. "Am Anfang herrscht nur Dunkelheit", sagt er. "Aber sehr bald muss man sich entscheiden, was man mit dem Rest seines Lebens macht." Das natürlichste, das, was man am ehesten erwartet, sei Hass. "Denn wenn jemand deine Tochter ermordet, dann bist du sehr zornig. Wir aber sagen, wir haben unsere Kinder verloren, aber wir haben nicht unseren Kopf verloren. Diesen Kopf muss man aktivieren." Elchanan empfiehlt, man müsse versuchen, zu verstehen, wie es kommt, dass jemand so grausam sein kann, sich neben einem kleinen Mädchen in die Luft zu sprengen. Was bringt einen Menschen dazu, so etwas zu tun? Woher kommt das? Gibt es in diesem Wahnsinn eine Logik? Diese Fragen müsse man sich stellen.

"Und dann fängst du an zu verstehen", sagt er. "Dann musst du entscheiden, entweder der Hass, der dich vollkommen auffrisst und der dich in einen Kreislauf stürzt, aus dem du nicht mehr raus kommst, einen Kreislauf aus Tod und Rache und Vergeltung und so weiter - bis wir alle tot sind. Oder ob du versuchen willst, diesen Kreislauf zu durchbrechen."

Ungewöhnliche Organisation

Rami Elchanan hat sich entschieden. Er ist dem Familienforum der Hinterbliebenen beigetreten, das sich für Versöhnung und Koexistenz einsetzt. In Israel gibt es mehrere Organisationen, in denen sich die Opfer der Terroranschläge zusammengeschlossen haben. Ungewöhnlich unter diesen Gruppen ist das "Hinterbliebenenforum", weil sich darin Israelis und Palästinenser zusammengefunden haben, die in den vergangenen Jahren Familienangehörige verloren haben. Elchanan traf in dem Forum auch Adel Misk, seinen Bruder im Schmerz, wie er sagt.

Auch der palästinensische Arzt, der sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten praktiziert, hat die Folgen des Nahost-Konflikts am eigenen Leib erfahren. Vor zehn Jahren wurde er Zeuge, wie sein Vater starb, erschossen von einem fanatischen israelischen Siedler. Ohne zu wissen, dass das Opfer sein Vater war, hatte er seine ärztliche Hilfe angeboten. Erst als er sich über den Sterbenden beugte, erkannte er ihn. An Ort und Stelle und später im Krankenhaus versuchte er das Unmögliche, versuchte er, das Leben seines Vaters zu retten. Doch Gama Misk hatte keine Chance.

"Ich war schon vor diesem Unglück im Friedenslager tätig", erzählt Misk. "Dieses Unglück ist mir vor zehn Jahren widerfahren, aber ich habe mich weiter in der Friedensbewegung engagiert. Vor zwei Jahren habe ich dann Gleichgesinnte im Hinterbliebenenforum gefunden, Palästinenser und Israelis, die gemeinsam für den Frieden arbeiten. Ich habe Freunde gefunden, die genauso denken wie ich - trotz des Leids und des Zorns. Freunde, die über den Frieden sprechen. Es ist ein großes Glück, Menschen zu finden, die bereit sind, trotz allem eine gemeinsame Sprache zu finden und die nicht an Rache denken, sondern an Versöhnung und Frieden."

3000 Tote

Gegründet wurde das Hinterbliebenen-Forum von Itzchak Frankenthal, dessen Sohn Arik von drei Mitgliedern der radikalen Palästinensergruppe Hamas entführt und ermordet wurde. Inzwischen hat das Forum an die 400 Mitglieder und hofft, dass es nicht weiter wachsen wird. "Wir empfinden uns nicht als Israelis oder Palästinenser. Wir empfinden uns als Menschen, die der Schmerz und die Hoffnung eint", erklärt Elchanan, der sich gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern für Verständigung mit den palästinensischen Opfern des Konflikts einsetzt.

Der Krieg hat in den vergangenen drei Jahren der Intifada mehr als 3000 Menschenleben auf beiden Seiten gefordert. Mehr als 3000 Familien, israelische und palästinensische, mussten lernen, mitten in dem politischen Chaos des Nahen Ostens mit ihrem ganz privaten Verlust zu leben.

Rami Elchanan und Adel Misk wollen den Hinterbliebenen dabei helfen. Gleichzeitig aber wollen sie auch ihre Botschaft verbreiten, die Botschaft von Versöhnung und Frieden, die dem Kreislauf der Gewalt ein Ende setzen soll. Eines Tages, sagt Elchanan, werden wir Frieden schließen, weil es keine Alternative gibt. Und Misk fügt hinzu: "Wir sind in einen langen schwarzen Tunnel hineingeraten. Aber ich hoffe, dass am Ende des Tunnels wieder Licht auf uns wartet."