Britische Kliniken vor dem Kollaps
8. Januar 2021England geht in den dritten landesweiten Lockdown. Mitarbeiter des britischen Gesundheitsdienstes NHS mühen sich derweil ab, COVID-19-Patienten in kritischem Zustand unterzubringen. Sie warnen davor, dass das Schlimmste noch kommt, wenn die neue Variante des Coronavirus sich im Land ausbreitet.
"Schon vor Weihnachten mussten wir Patienten anderswo hinschicken, weil wir nicht genug Betten hatten", sagt Kinderkrankenschwester Beth Walmsley. Die 33-Jährige behandelt seit kurzem Erwachsene ebenso wie Kinder, um ihre Kollegen zu entlasten, die sich um den Zustrom von ernsthaft gefährdeten COVID-19-Patienten kümmern.
Die Klinik, in der Walmsley arbeitet, ist eine von Dutzenden im ganzen Land, die vor den Feiertagen einen "gravierenden Notstand" ausgerufen hatten - und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufforderten, den Jahresurlaub und alle Feiertagspläne zu streichen und bis auf weiteres zu arbeiten.
Einer von 50 Haushalten infiziert
"Wir stehen jetzt schon vor einer Zerreißprobe, und wir sind noch nicht mal bei dem prognostizierten Höhepunkt angekommen, den uns Weihnachten und Silvester bescheren werden", sagt Zainab Najim, Geschäftsführerin der Ärztevereinigung des Vereinigten Königreichs.
Zahlen der nationalen Statistikbehörde deuten darauf hin, dass mehr als eine Million Menschen sich vergangene Woche mit dem Coronavirus angesteckt haben. Das ist landesweit ein infiziertes Mitglied in jedem 50. Haushalt, in London sogar in jedem 30. Haushalt.
Premierminister Boris Johnson hatte mit seiner Last-Minute-Lockdown-Anordnung seinen Landsleuten schließlich nahegelegt, ihre Feiertagspläne einzuschränken, den Londonern und den Menschen im gebeutelten Südosten verordnete er, sie ganz abzusagen. Dennoch erwarten Mitarbeiter des National Health Service (NHS) eine Steigerung der Corona-Fälle durch jene, die sich nicht daran gehalten haben. Angesichts der mehrtägigen Inkubationszeit haben viele derer, sie sich während der Jahreswende angesteckt haben, noch gar keine Symptome entwickelt.
"Wir erwarten eine Spitze etwa um den 17. Januar", sagt Penny Louch, eine 63-jährige spezialisierte Pflegerin, die virtuelle Sprechstunden für COVID-19-Patienten anbietet, deren Symptome nicht so gravierend sind, dass sie ins Krankenhaus müssen. "Es wird auf jeden Fall schlimmer, bevor es besser wird."
Druck auf Gesundheitsservice NHS wächst
"Es gibt so ein Gefühl wie: 'Es geht wieder los' und dass es schlimmer wird als beim ersten Mal", sagt Beth Walmsley über die Stimmung der Pflegekräfte, die sich seit vergangenen März auf die Pandemie einstellen müssen. "Das ist schwer in den Kopf zu kriegen. Die Öffentlichkeit hat keine Ahnung, wie schlimm es wirklich ist."
Die Mitarbeiter im Gesundheitswesen müssen sich nicht nur neue Kenntnisse aneignen, sich an neue Verhältnisse anpassen und ihren Jahresurlaub aufgeben - sie sind auch immer noch eine der Gruppen mit dem höchsten Infektionsrisiko. Das gilt vor allem angesichts der neuen, wesentlich ansteckenderen Virusmutation.
"Viele der Krankenhäuser haben die Kapazitäten unglaublich gut erhöht", sagt Zainab Najim von der Ärztevereinigung - eine Verneigung vor den NHS-Beschäftigten an vorderster Front wie Beth Walmsley, die zusätzliche Aufgaben übernommen haben, als der Druck auf die Krankenhäuser wuchs.
"Leider haben wir nicht genug Leute", fügt Zainab Najim hinzu. Denn viele Klinikmitarbeiter werden krank und müssen in Quarantäne. Und während Großbritannien den Impfstoff in der Öffentlichkeit verteilt, werden Pflegekräfte und Ärzte weder gezielt angesprochen noch bevorzugt geimpft. Der Druck auf sie könnte zu Burnouts und anhaltenden seelischen Problemen führen.
"Es ist sehr schwer für die Beschäftigten, sich von all dem frei zu machen. Die Patienten sind viel schwerer erkrankt", sagt Zainab Najim. "und wenn dies alles vorbei ist, wird die seelische Gesundheit eine riesige Herausforderung sein."
Lockdowns: Zu wenig, zu spät
Hätten diese tödliche Welle und der enorme Druck auf den NHS vermieden werden können? Mitarbeiter des Gesundheitssystems kritisieren, dass die Verlautbarungen der Regierung während der gesamten Pandemie der Öffentlichkeit ein falsches Gefühl von Sicherheit gegeben hätten. Die regionalen und nationalen Lockdowns seien zu lasch und zu spät gewesen.
"Die Botschaft, die von der Regierung rüberkam, klang immer so, als sei das eine kurzfristige Maßnahme", beklagt Penny Louch und ergänzt, dass Pandemien in der Regel zwei Jahre andauern. "Die Leute müssen es in ihren Kopf kriegen, dass wir in Lockdowns rein und raus gehen werden, bis die meisten Menschen geimpft sind. Aber wir schlagen uns mit Leuten rum, die denken, sie haben kein COVID-19 oder sie bekommen es nicht."
Die lauen Botschaften der Regierung wirken sich direkt auf die Zahl der Fälle und damit auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern aus.
"Das macht uns als Professionelle wütend, weil sie Hoffnung säen und die Menschen als Reaktion darauf unvorsichtig und gedankenlos werden", fügt Beth Walmsley hinzu. Die fixe Idee der Regierung, den Lockdown über die Feiertage zu lockern, habe das Verhalten der Leute beeinflusst.
"Weihnachten hätte schon im Oktober abgeblasen werden sollen, es hätte einen Lockdown geben müssen und die Regierung hätte sich auf die Organisation eines intensiven Impfprogramms konzentrieren sollen", sagt Beth Walmsley. "Hätten wir das gemacht, könnten wir ganz anders in dieses Jahr starten."