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Chronik aus dem brasilianischen Ghettoalltag

Mariana Ribeiro17. Juni 2006

Die Mittel- und Oberschicht Brasiliens interessiert sich immer mehr für die Kultur, die in den Armenvierteln der Großstädte produziert wird. Literaturwissenschaftlerin Heloísa Buarque de Hollanda erklärt warum.

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Favela in São PaoloBild: AP

Es ist nicht lange her, dass das kulturelle Establishment Brasiliens eine Marktnische entdeckte: die Kultur der Slums. Tanz, Musik, Theater und Literaturprojekte, die in den Favelas genannten Armenvierteln entstanden, gewannen die Aufmerksamkeit der Medien.

"Die Verlage spürten, dass es Bedarf nach einer Literatur gab, die in der Favela produziert wurde. Sie bemerkten ein Interesse an dem Leben in diesen Vierteln. Und dann kam auch der Band Carandiru heraus, der das Leben im größten Gefängnis São Paulos aus der Perspektive der Gefangenen schilderte", erinnert sich Buarque de Hollanda bei ihrem Besuch in Berlin.

Kunst zwischen Armut und Gefängnis

Es war der Anfang einer Reihe von kulturellen Ereignissen, die das Leben der Minderprivilegierten ans Licht brachte und ihnen die Möglichkeit gab, zu Wort zu kommen. In diesem Kontext wurde auch das Buch City of God herausgegeben. Der Stoff lieferte die Grundlage für das Drehbuch des weltweit gelobten Films der Regisseure Fernando Meirelles und Katia Lund.

Heloisa Buarque de Hollanda
Die brasilianische Literaturwissenschaftlerin Heloisa Buarque de HollandaBild: UFRJ

Heute, sagt Buarque de Hollanda, sei die authentische Literatur aus der Favela längst etabliert und stelle ein unverwechselbares Genre dar, das sich zwischen Chronik des Ghettos und Gefängnisliteratur bewegt. Diese neue literarische Form, so die brasilianische Wissenschaftlerin, weise ein bestimmtes Format auf: Die heruntergekommenen Plattenbautensiedlungen am Rande der Städte und die endlosen Slums von Rio werden in den Mittelpunkt der Narrative gestellt.

Gewalt aus der Nähe dargestellt

Die Favela ist nicht mehr nur Kulisse. Sie übernimmt eine erzählende Funktion. Die Gewalt wird nicht mehr als Spektakel dargestellt, sondern von Insidern als ein Teil des Alltags enthüllt. Vom Hip-Hop leiht sich diese neue Tendenz der Literatur die Wut, die Chronik des Ghettos und den Rhythmus aus.

Obwohl der literarische Trend von den Reichen "aus dem Asphalt" – wie die noblen Viertel im Gegensatz zu den nicht asphaltierten Strassen der Favelas heißen – konsumiert wird, sehen viele Brasilianer aus der Mittel- und Oberschicht das Ganze mit Distanz oder als etwas "Exotisches" an.

"Die Leser interessieren sich für diese Art von Literatur, weil sie auch wissen wollen, was in dem geographischen Raum der Favela abgeht und warum es dort so viel Gewalt und Kriminalität gibt", sagt Buarque de Hollanda. Zwar fingen viele Leute an, diesen Ort besser zu verstehen, engagierten sich aber trotzdem weiterhin nicht, um die Situation dort zu ändern.

Favela (Innen)
Lebensbedinungen in einer Favela in Rio de JaneiroBild: AP

Alternative zum Drogenhandel

Eine wichtige Rolle für die kulturelle Produktion in den Slums spielen auch die vielen NGOs, die Literatur-, Theater-, Tanz- oder Fotografiewerkstätten in den Armenvierteln koordinieren. Eine dieser Organisationen heißt Afroreggae und hat zum Ziel, Jugendliche durch kulturelle Angebote aus dem Drogenhandel-Milieu rauszuholen.

Bei Afroreggae arbeitet Anderson Sá, der neben Buarque de Hollanda im Berliner Theater Hebbel am Ufer einen Vortrag über Kultur und Widerstand in der Favela hielt. Sá kommt selber aus der Favela Vigário Geral, einem der gewalttätigsten Viertel Rio de Janeiros. Mit 14 fing er schon an zu dealen. "Nicht weil ich die Anwohner des Asphalts beneidet hätte, sondern weil ich ein besseres Leben für meine Community wünschte", berichtet er.

Wohltäterfassade

Die Drogenbosse in den Armenvierteln Rios nehmen häufig eine Rolle an, die an sich dem Staat zustehen würde: Sie verteilen Medikamente, leihen Geld aus, finanzieren Beerdigungen und organisieren Partys für die Gemeinschaft. Der Drogenhändler pflegt auf diese Weise sein Image als "Wohltäter", als einem, der den Anderen nur Gutes tut.

Sá stieg durch die NGO Afroreggae aus der Kriminalität aus und hilft heute anderen Jugendlichen, sich von dem Milieu zu distanzieren. Seine Biografie inspirierte vor kurzem die amerikanischen Regisseure Jeff Zimbalist und Matt Mochary, die den Dokumentarfilm Favela Rising in Rio drehten.

Der Ausstieg aus der Kriminalität mit Hilfe von kulturellen Angeboten hilft vielen, Selbstachtung zu erlangen. "Wenn man Capoeira tanzt", so Anderson Sá, "nimmt man sich selber zum ersten Mal als Schwarzen wahr. Man fängt an, die eigenen Wurzeln zu kennen und sie zu mögen".