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Lyriker Lehnert

Michael Hollenbach11. Januar 2013

Christian Lehnert gilt als einer der profiliertesten Dichter der deutschen Gegenwartslyrik. Als Pfarrer wagt er es, religiöse Fragen mit moderner Lyrik zu verbinden. Sein Stil begeistert viele.

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Bild: picture-alliance/eb-stock

Christian Lehnert ist ein Suchender. Der 43-jährige Theologe verkündet in seinen Gedichten keine Glaubensgewissheiten. Er schreibt über Gott, ohne ihn zu benennen. "Die entscheidende spirituelle Form unserer heutigen Religiosität ist, dass wir zweifeln. Das ist ein Ausdruck unseres Glaubens", sagt der gebürtige Dresdener, der erst in vergangenen Herbst mit dem Hölty-Lyrik-Preis der Stadt Hannover ausgezeichnet wurde, dem mit 20.000 Euro höchst dotierten Lyrikpreis in Deutschland.

Christian Lehnert steht durchaus in der langen Tradition protestantischer Lyrik. Denn – so Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland - Zweifel sei in der Lyrik schon immer ein Teil des Glaubens gewesen. Protestantische Dichter hätten immer wieder Fragen "gegen falsche theologische Sicherheiten" gestellt. An Christian Lehnert schätzt die Berliner Theologin vor allem seinen Mut, "sich an Grenzen dessen heranzuwagen, was Sprache kann". Ein Beispiel für diese Kunst sind Zeilen aus dem Band "Aufkommender Atem":

Die Katzen haschen nach dem Ahornblatt,

das auf der Wiese treibt vor dem Gewitter.

Ich aß fast nichts am Abend und bin satt

die ganze Nacht, am Morgen schmecken bitter

die Zungenwurzel und das Augenlicht.

Ich weiß nicht, was ich heute beten soll –

In Bitten fassen, was an Sinn gebricht?

Ich lese, lese mir den Rachen voll.

(aus: Aufkommender Atem. Gedichte. © Suhrkamp Verlag 2011.)


Unter Ideologieverdacht

Es sei bemerkenswert, so Petra Bahr, dass es in der deutschen Literatur eine große Scheu gäbe, religiöse Fragen als Lyriker aufzugreifen. Sofort entstehe dann der Verdacht, es handele sich dabei um "kitschige Erbauungsliteratur". Dieses Problem kennt auch Christian Lehnert. In einer säkularisierten Welt wirken Verse vom christlichen Glauben fast wie ein Anachronismus. Er eckt mit seinem theologischen Hintergrund im Literaturbetrieb an. Als Theologe stehe man sofort unter Ideologieverdacht, sagt der Lyriker, der das Liturgiewissenschaftlichen Instituts der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche leitet. "Man kann ein simples Liebesgedicht schreiben, und sofort mutmaßt der Kritiker, was für ein mystisches Gedicht das wäre. Man ist in einer gewissen Rezeptionsschublade. Damit habe ich gelernt umzugehen.“

Im Anfang war das Wort

Lehnert spielt auch mit seinem theologischen Erfahrungsschatz. Zum Beispiel, wenn er eine Variation auf die Seligpreisungen der Bergpredigt dichtet: Verse, die sich auf die ersten Monate im Leben seiner Tochter beziehen:

Selig, die etwas anfängt und nie zu Ende bringt,

Judisches Museum, Berlin, Podiumsdiskussion im Rahmen der neuen Reihe »Visionen der Zugehörigkeit«: "Welche Religion gehört zu Deutschland?", Veranstaltung am 29. Oktober 2012. Bahr Petra Porträt Fotorechte: Kulturbüro der EKD Bild geliefert von Franziska Windisch, Assistenz Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Stiftung Jüdisches Museum Berlin für DW/Bettina Marx.
Petra BahrBild: Kulturbüro der EKD

die das Rad nicht kennt und keine Schrift,

die nichts vom aufrechten Gang weiß und mit vier

freien Händen nach dem Mond greift. (…)

Selig, die ein Brummen beruhigt

in der Dunkelheit über dem hallenden Schmerz

im Leib. Selig, die von der Stimme, in der sie

wochenlang schwamm, das Heimweh der Laute lernte.

(aus: Auf Moränen. Gedichte. © Suhrkamp Verlag 2008.)

Der Dresdener Christian Lehnert stammt aus keinem besonders religiösen Elternhaus. Erst als Jugendlicher entdeckte er sein Interesse am christlichen Glauben, dem er dann konsequent folgte. Später studierte er Religionswissenschaften, evangelische Theologie und Orientalistik. Vielleicht liegt es an diesem Hintergrund, dass seine Lyrik modern und zugleich sehr traditionell wirkt.

Der Lyriker Christian Lehnert posiert am Dienstag (11.09.2012) im Rathaus von Hannover für ein Foto. Lehnert bekommt am Mittwoch (12.09.2012) den mit 20.000 Euro dotierten Hölty-Preis verliehen. Foto: Lukas Schulze dpa/lni
Dichterpfarrer Christian LehnertBild: picture-alliance/dpa

"Meine Gedichte folgen nicht der postmodernen Dauerschleife der Infragestellung des Autors oder einer fundamentalen Sprachkritik. Ich habe mich immer mehr hineingeschrieben in ein ganz naives Vertrauen in die Sprache, die etwas zu tun hat mit: Im Anfang war das Wort."

Grundfragen des Lebens

Der Pfarrerdichter betont, er wolle nicht einem Kulturpessimismus das Wort reden, aber er mache sich Sorgen um die Zukunft der Lyrik. Einerseits seien die Lesungen sehr gut besucht. Das hänge vielleicht auch mit dem Boom des poetry slam zusammen. Zugleich würden aber die Verkaufszahlen von Gedichtbänden weiter sinken. Andererseits sei die Lyrik eine Gattung, die eine Nähe zur Philosophie und zur Theologie habe. Und dieser Dreiklang habe es in unseren Tagen ohnehin schwer. "In Lebensvollzügen, die immer funktionaler werden, sind die Fragen nach den Grunddingen immer mehr an den Rand gedrängt und das betrifft absolut die Lyrik", kritisiert der Dichterpfarrer. Vielleicht sind ja die Winterabende eine gute Zeit, um den Fragen nach den Grundfragen des Lebens mal wieder intensiver nachzuspüren.