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Letztes Opfer

Mathias Bölinger6. Februar 2009

Im Februar 1989 wurde Chris Gueffroy an der Berliner Mauer erschossen. Es war das letzte Mal, dass ein DDR-Bürger seinen Fluchtversuch in den Westen mit dem Leben bezahlte – im November 1989 war die Mauer Geschichte.

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Chris Gueffroy (Quelle: Ullsteinbild)
Die Flucht in den Westen kostete Chris Gueffroy das LebenBild: ullstein bild - Rondholz

Ein fataler Irrtum verleitet Chris Gueffroy im Februar 1989, den Fluchtversuch zu wagen. Ein befreundeter Soldat hatte ihm erzählt, der Schießbefehl sei ausgesetzt. Der zwanzigjährige Kellner fühlt sich in der DDR eingeengt. Und als ihm der Wehrdienst droht, entschließt er sich gemeinsam mit einem Freund zur Flucht über die Mauer. Am Abend des 5. Februar 1989 verstecken sich beide in einer Kleingartenanlage, direkt an der Grenze. Mit einer "Räuberleiter", also ohne jede Hilfsmittel, versuchen sie, über die Mauer zu klettern, und lösen dabei Alarm aus.

Augenzeugen aus dem Westen berichten später, sie hätten mindestens zehn Schüsse gehört und gesehen, wie ein Mann abtransportiert wurde. Chris Gueffroy stirbt innerhalb weniger Minuten, sein Freund überlebt schwer verletzt und wird ins Gefängnis gebracht. Die DDR-Führung versucht, den Tod Gueffroys zu vertuschen. In einem Brief an Erich Honecker erklärt der Minister für die Staatssicherheit (Stasi), Erich Mielke, später, er habe Maßnahmen ergriffen, um "Schaden der DDR vorzubeugen. Dazu gehörte, die gesetzlich erforderlichen Mitteilungen an Familienangehörige auf das notwendige Minimum zu beschränken".

Vage Formulierungen

Mauer (Quelle: AP)
Ab 1961 baute die DDR ihre Grenze immer weiter ausBild: AP

Erst zwei Tage später wird der Familie mitgeteilt, dass ihr Sohn tot ist. Er sei umgekommen, als er militärisches Sperrgebiet angegriffen habe, erklärt die Stasi nur vage. Allerdings: Die Familie Gueffroy wohnt in der Nähe der Mauer und hat die nächtlichen Schüsse gehört. Zwei Wochen später setzen die Angehörigen eine Todesanzeige in die "Berliner Zeitung", in der von einem "Unglücksfall" die Rede ist – die vorgeschriebene Sprachregelung.

Zur Beerdigung kommen auch viele westliche Reporter. Am Abend berichtet der damalige Westberliner Rundfunksender RIAS: "Die vage Formulierung von der tragischen Weise, auf die Chris seine Augen für immer geschlossen habe, wiederholte sich in der Ansprache des professionellen Trauerredners heute Nachmittag. Mehr war über die Todesursache offiziell nicht zu hören. Auf dem Friedhof hatten sich schon frühzeitig starke Kräfte der Staatssicherheit verteilt. Einige dieser Zivilisten waren selbst während der Urnenfeier in der Trauerhalle anwesend."

Ein Stück Gerechtigkeit

Mauer und Strand (Quelle: AP)
Sonnenbaden vor der Mauer: Viel ist nicht mehr übrig von der weitläufigen AnlageBild: AP

Chris Gueffroy ist der letzte Mauertote. Ein halbes Jahr später bricht die DDR zusammen. Der Soldat, der Chris Gueffroy erschossen hat, wird Anfang der neunziger Jahre zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. 1997 dann muss sich das letzte Politbüro der DDR für den Schießbefehl verantworten. Honeckers Nachfolger Egon Krenz wird zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Mutter Chris Gueffroys beobachtet den Prozess: "Sagen Sie nicht Genugtuung, das wird kein Hinterbliebener haben. Aber es ist ein Stück dessen, was wir immer haben wollten: Gerechtigkeit. Das, was uns immer verwehrt worden ist."

Dort, wo Chris Gueffroy versucht hatte, über die Mauer zu klettern, sind inzwischen Spaziergänger und Radfahrer unterwegs. Der Mauerstreifen ist in einen Park umgewandelt worden, ein Gedenkstein erinnert an den jungen Mann, der als letzter an der Mauer erschossen wurde. Der Berliner Senat hat ihn im Juni 2003 aufstellen lassen – zu seinem 35. Geburtstag.