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Chaos und Anarchie

Klaus Dahmann31. Juli 2006

Ab 1. August ist das Reform-Regelwerk in allen Schulen und Verwaltungen zunächst "verbindlich", in einem Jahr dann auch "gültig". Doch das Chaos ist geblieben - meint Klaus Dahmann in seinem Kommentar.

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Die Hitzigkeit ist aus den Diskussionen um die Rechtschreib-Reform zwar verschwunden, aber sie hat nur Platz gemacht für das größere Übel: Gleichgültigkeit. Und das führt - geradezu zwangsläufig - zu orthografischer Anarchie. Dafür gibt es eine Vielzahl von Ursachen. Ursachen, die die Väter der Reform teils hätten vermeiden können, teils aber auch schlicht ignorierten, weil sie nicht zu vermeiden waren.

Sicher, die Vordenker waren Leute vom Fach - also Germanisten. Hier begann schon das Dilemma, denn bei weitem nicht alle Germanisten waren und sind davon überzeugt, dass eine Reform wirklich notwendig ist. So sprachen sich 1998 fast 600 Sprach- und Literaturwissenschaftler in einem offenen Brief gegen die Reform aus. Dabei darf man natürlich nicht vergessen: Die Missgunst unter Germanisten gehört zu den schlimmsten im akademischen Bereich. Grabenkämpfe pro und contra Reform sind da quasi programmiert.

Überarbeitete Überarbeitung

Was ebenfalls maßlos unterschätzt wurde, war der zu erwartende Protest außerhalb der akademischen Welt: Schriftsteller und Journalisten wetterten, entlarvten die vermeintlichen Verbesserungen als Farce und ließen die Autorität der Reform-Väter dahinschmelzen, bis kaum noch etwas übrig blieb.

Eine unrühmliche Rolle übernahmen schließlich auch die Politiker, ohne die es nicht geht, weil sie die Änderungen absegnen und in Schulen und Verwaltungen anordnen müssen. Die einen Volksvertreter spielten voreilige Vollstrecker, die anderen tumbe Verhinderer - und machten das Chaos komplett. So führten zehn Bundesländer die neuen Regeln schon zwei Jahre früher als geplant in den Schulen ein, schufen damit also vollendete Tatsachen. Um hinterher das Argument zu haben, jetzt könne man die Reform ja schlecht wieder zurücknehmen.

Dann mischte sich noch der Haushaltsausschuss des Bundestages ein und sprach den Kultusministern der Bundesländer die Kompetenz in Sachen Rechtschreib-Reform ab. Eine Überarbeitung wurde in Auftrag gegeben und diese überarbeitete Fassung dann wieder gekippt. Mittlerweile liegt eine überarbeitete Überarbeitung auf dem Tisch, aber wie dort die Regeln genau aussehen, interessiert kaum einen mehr.

Muttersprache und Emotionen

Wer bis heute behauptet, man hätte dieses Hickhack um die Rechtschreib-Reform doch nicht vorhersehen können, ist naiv oder blind. Oder eben beides. Denn hier geht nicht nur um die rein technisch-rationale Frage, wie man mit möglichst wenig Rechtschreib-Regeln auskommt. Sondern hier geht es um starke Emotionen, die sich mit der Muttersprache verbinden. Es geht um den Autoritätsverlust, den Eltern gegenüber ihren Kindern erleiden, wenn sie plötzlich nicht mal mehr bei Grundschul-Aufsätzen mit Sicherheit richtig von falsch unterscheiden können.

Das Ziel, durch einfachere Regeln das Schreiben zu erleichtern, hat die Reform verfehlt. Dazu wäre ein radikalerer Bruch mit den Schreibtraditionen notwendig gewesen, der aber völlig unrealistisch gewesen wäre. Nun gibt es statt größerer Einheitlichkeit mehr Chaos und Anarchie. Und das wird auf Jahrzehnte hinaus so bleiben. Einen Vorteil hat die Sache nur: So verbissen wie früher schaut keiner mehr auf Rechtschreibfehler.