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CCCP in den Köpfen

Stephan Hille15. Juni 2004

Am "Tag der Unabhängigkeit" konnte Stephan Hille in Moskau beobachten, dass Vergangenheit und Gegenwart manchmal kaum voneinander zu unterscheiden sind.

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Ein rot-weiß-blaues Farbenmeer auf dem Roten Platz in Moskau. Die Kreml-Garde in Uniformen aus der Zarenzeit hoch zu Ross, Salutschüsse und Sowjetschlager, Folkloregruppen aus den russischen Provinzen und eine Parade russischer Elitesoldaten. Auf der riesigen Ehrentribüne entlang der Kremlmauer und des Lenin-Mausoleums saß alles, was in Russland Rang und Namen hat, darunter Präsident Putin und sein Vorgänger Boris Jelzin.

Russland feierte seinen nationalen Feiertag: Fröhlicher und weniger martialisch als die früheren Komsomolzen-Aufmärsche, die damals von den Politbüro-Senioren auf dem Lenin-Mausoleum verfolgt wurden, ging es bei den diesjährigen Feiern zu. Dennoch erinnerte das Massenspektakel in seiner ganzen Choreographie an die Sowjet-Paraden der Vergangenheit, mit der Russland eigentlich abgeschlossen hat.

Als "Tag der Unabhängigkeit" feiern die Russen seit zehn Jahren den 12. Juni, doch vielen Russen ist überhaupt nicht klar, was genau gefeiert wird. "Unabhängig von was, von wem?", fragt sich laut einer Umfrage ein Viertel der Russen. "Na, von der Sowjetunion", lautet die korrekte Antwort. Am 12. Juni 1990 wurde die Deklaration über die staatliche Souveränität Russlands verabschiedet.

Als die Sowjetunion bereits Geschichte geworden war, erklärte Russlands Präsident Boris Jelzin den 12. Juni zum nationalen Unabhängigkeitstag. Ein Zeichen zum Aufbruch in die Zukunft. Doch an die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit wagte sich Jelzin nicht.

Sein Nachfolger Wladimir Putin will das noch weniger. Noch in seinem ersten Amtsjahr gab er den Russen die von Jelzin abgeschaffte Sowjethymne mit neuem Text zurück. Mit der frisch wieder eingeführten Erkennungsmelodie gab Putin auch gleich den neuen Takt vor: War doch alles gar nicht so schlimm. Und damit traf er erfolgreich Volkes Nerv.

Hatte es Anfang der 1990er-Jahre noch ein paar zaghafte Versuche gegeben, die Vergangenheit aufzuarbeiten, so interessiert sich heute in Russland niemand mehr für die düsteren Kapitel der sowjetischen Geschichte. Eine Handvoll Historiker versucht, die düstere Geschichte von GULAG und KGB aufzuarbeiten, doch die breite Öffentlichkeit und die Regierenden lässt das kalt. Stattdessen erscheinen Bücher, wie "Der große Stalin", und der Inlandsgeheimdienst FSB macht sich bemerkbar, indem er Wissenschaftler wegen vermeintlichen Hochverrats anklagen lässt.

Nostalgija und "CCCP"-T-Shirts sind in Mode. Geschichte findet allenfalls als Event-Kultur statt. Zum Beispiel in der "Zone". So wurden im Volksmund die sowjetischen Straflager genannt, und so heißt auch ein Nachtclub, der den sowjetischen Strafvollzug zum Vergnügungsleitmotiv wählte und damit zum neuen "In"-Club der Moskauer Party-Gesellschaft avancierte. Stacheldraht und finstere Wachmänner mit Schäferhund "sichern" das Terrain von außen. Drinnen, geht es entspannter zu: Häftlingskleidung ist nur für die Bedienung Pflicht, die Party findet hinter Gittern statt. Der GULAG als Party-Gag.

Man kann es den Russen kaum verdenken, dass sich die breite Öffentlichkeit nicht der totalitären Geschichte stellen mag oder kann. Russland rutschte aus der dahinsiechenden Sowjetunion wie das Ei aus dem Huhn. Es gab keinen wirklichen Bruch, im Grunde regieren die alten Eliten. Und weil die Lebensbedingungen für das Gros der Bevölkerung noch immer hart sind, verklärt Ivan Normalverbraucher die Vergangenheit und zieht an Feiertagen Kartoffeln auf der Datscha.