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Politik

Caner Aver: "Erdogan will absolute Macht"

31. Oktober 2016

Die Verhaftungswelle in der Türkei ist Teil eines umfassenden Staatsumbaus, sagt Caner Aver vom Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung. Letztlich gehe es Erdogan um den Aufbau einer neuen Republik.

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Türkei | Recep Erdogan bei der Eröffnung der High Speed Train Station in Ankara
Bild: picture-alliance/abaca

Deutsche Welle: Herr Aver, in der Türkei sind jetzt noch einmal 10.000 Staatsdiener entlassen worden - gut 100.000 sind es nun insgesamt. Bis zu 40.000 Menschen sind nach dem Putsch verhaftet worden, am Wochenende nun auch Murat Sabuncu, der Chefredakteur der Zeitung "Cumhurriyet". Wie sehen Sie die jüngste Entwicklung in der Türkei?

Caner Aver: Es ist ein weiterer Schritt hin zu einem autokratischen System, das auf Grundlage des Ausnahmezustands sehr leicht durch Dekrete etabliert werden kann. Eigentlich dienen die Dekrete dazu - das sagt auch das Grundgesetz -, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Die Gefahr, die von den Putschisten ausging, sollte dadurch beendet werden. Doch immer mehr Dekrete, die im Rahmen des Ausnahmezustands jetzt erlassen werden, weichen von diesem Ziel ab. Wir haben es mit einem massiven Eingriff in die Medien zu tun. Bisher wurden mehr als 160 Medienunternehmen geschlossen. Die Journalisten dieser Medien wurden verhaftet und verhört. Und gerade die "Cumhuriyet" gilt als die letzte Medienbastion der republikanisch und sozialdemokratisch ausgerichteten Opposition. Sie hatte sich in der Vergangenheit gegen die Güllenisten positioniert. Jetzt wird sie verurteilt, weil sie die Güllenisten oder auch die terroristische Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK, unterstützt habe. Das ist absurd.

Der Präsident soll nun auch das Recht erhalten, die Rektoren der Hochschulen zu ernennen. Worauf zielt dieser Schritt?

Hier wird die vollständige Kontrolle des und Einflussnahme auf den akademischen Betrieb durch den Präsidenten betrieben: Die Hochschulen schlagen drei Rektoren vor, und Präsident Erdogan ernennt dann einen von ihnen. Das bedeutet politische und ideologische Einflussnahme auf den Hochschulbetrieb. Die ohnehin sehr brüchige und schwache Unabhängigkeit der Wissenschaft ist dadurch komplett aus den Angeln gehoben worden.

Ist dieser Schritt Teil eines größeren Maßnahmenkatalogs?

Es sieht so aus. Derzeit werden unter dem Deckmantel der Sicherheit und des Ausnahmezustands Strukturen und Bedingungen geschaffen, um absehbar die zweite Republik nach Atatürk auszurufen zu können. Die wird auch vermutlich kommen.

Wie könnte diese zweite Republik aussehen?

Die Republik als Begriff und Staatsform wird vermutlich nicht abschafft werden. Aber sie wird ausgehöhlt werden, man will eine neue Verfassung. Das wird ein Präsidialsystem sein mit einer absolutistischen Macht für Präsident Erdogan, der so die Geschicke des Landes komplett leiten kann. Somit hätten wir eine Republik, die sich nominell zwar nicht von der vorhergehenden unterscheiden wird. Aber die Deutung dieser Republik in der Verfassung wird sich von der derzeitigen gründlich unterscheiden.

Caner Aver
Caner Aver vom Essener Zentrum für Türkeistudien und IntegrationsforschungBild: Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung

Welche Motive mag Präsident Erdogan für seinen Kurs haben?

Möglicherweise hat Erdogan absolutistische Ansprüche und will nach Atatürk als der wichtigste Staatsmann in die Geschichte eingehen. Erdogan wird offenbar von seinem ausgesprochenem Ego getrieben. Er will die absolute Macht. Dafür braucht er eine Verfassungsänderung. Denn nur so ließe sich das De-facto-Präsidialsystem verfassungsmäßig absichern. Im Jahr 2023 - man feiert dann den hundertsten Jahrestag der türkischen Republik - möchte er als der große, starke Mann gelten, der die Türkei aus der aktuellen Krisensituation sowohl im Inland als auch im Konflikt mit den Nachbarländern heraus- und in die Zukunft geführt hat. Ob das dann so eintreten wird, bleibt abzuwarten, denn unvorhersehbare und unkalkulierbare Entwicklungen in den Nachbarländern Syrien und Irak könnten dem einen Strich durch die Rechnung machen.

Wie sind die Reaktionen in der Türkei auf dieses Ansinnen?

Die türkische Bevölkerung spaltet sich derzeit in ein religiös-nationalistisch-konservatives Lager, das die Linie des Präsidenten unterstützt, und ein republikanisch-sozialdemokratisch-linkes Lager, das vehement gegen die Politik Erdogans auftritt. Ein zentrales Problem wird sein, dass die hunderttausend Verhafteten oder auch Entlassenen sich nach Ende des Ausnahmezustands wehren und den Staat verklagen werden - und zwar sowohl innerhalb der Türkei als auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es werden dann mehrere tausend Verfahren gegen die Regierung stattfinden gegen die Entlassungen aus dem Staatsdienst und gegen Verhaftungen. Die Frage ist, wie die Regierung damit umgehen wird. Wird sie sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beugen oder nicht? Aber mittelfristig wird sich das Land in ein autokratisches System begeben - auch faktisch gesehen, mit einem sehr starken Präsidenten, wenig Unabhängigkeit der Institutionen, so dass man von demokratischen Grundprinzipien kaum mehr reden kann. Das wird vermutlich auch Konsequenzen für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union haben.

Wird Erdogan auch eine stärker islamisch geprägte Türkei anvisieren?

Vordergründig ist Erdogan ein Pragmatiker. Er kommt aber aus dem national-konservativ-religiösen Milieu. Wenn er also seine Ziele erreicht, werden wir im Staatsapparat wohl verstärkt entsprechenden Elementen begegnen. Ob das Land tatsächlich dann auch eine islamische Republik sein wird, das wage ich zu bezweifeln. Allerdings wird der Tenor des Nationalkonservativ-Islamischen in den Strukturen und möglicherweise auch in der Gesetzgebung, im Öffentlichen Leben, im Bildungswesen  und im akademischen Betrieb stärker zu spüren sein als heute; letzteres wird sich negativ auf die Wissenschaftskooperation mit Europa auswirken.

 

Caner Aver ist Diplom-Geograph mit dem Schwerpunkt politische Geographie. Am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen forscht er unter anderem zu Transnationalität und den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union.

Das Gespräch führte Kersten Knipp.

 

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika