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Bürger wollen populären Chef zurück

Hao Gui21. Juni 2016

Im südchinesischen Fischerdorf Wukan wollen die Bewohner ihren Lokalpolitiker wieder im Amt haben und gehen auf die Straße. Dort wurde der erste in China frei gewählte Landrat festgenommen, wegen Korruptionsverdacht.

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Landrat Lin Zulian (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/A. Lee

Dass in China der örtliche Parteisekretär von der Bevölkerung wirklich geliebt wird, steht nicht nur in der amtlichen Presse. Am Montag gingen rund tausend Bewohner in Wukan, nach chinesischen Maßstäben ein Dorf (Einwohnerzahl: 12.000) an der Küste der südchinesischen Provinz Guangdong, auf die Straße. Sie forderten, dass die genehmigten Immobilienprojekte gestoppt werden, und protestierten gegen die Festnahme des Parteisekretärs und Landrats Lin Zulian, der in der Dorfverwaltung als ranghöchster Politiker das letzte Wort hatte - bis vergangenen Freitag.

In einer Nacht- und Nebelaktion hatten am Samstag Dutzende bewaffnete Polizisten die Wohnung Lins gestürmt. Er sei wegen Korruptionsverdacht festgenommen worden, hieß es. Am Dienstag veröffentlichte die Staatsanwaltschaft der Stadt Lufeng ein Video, das am Montagabend aufgezeichnet wurde. Darin gab Lin ein zweiminütiges Schuldbekenntnis ab. Auffällig war es, dass Lin nicht den einheimischen Dialekt Kantonesisch sprach. Auf die Frage "Wollen Sie Angaben machen?" gab er in der Amtssprache Chinesisch zu, er habe bei vielen öffentlichen Projekten hohe Provisionen kassiert und sich damit schuldig gemacht. Sichtlich bemühte er sich um die richtige Aussprache.

Politstar im Rentenalter

Der heute 72-jährige Lin hatte in jungen Jahren bei der Volksbefreiungsarmee gedient. Mit 25 Jahren quittierte er den Militärdienst und war bis zu seinem Ruhestand 1995 in einer Erschließungszone von Guangdong für Wirtschaftsförderung zuständig.

Sein Heimatdorf Wukan war schon vor fünf Jahren Leuchtturm und Synonym für einen Feldversuch in Basisdemokratie in China. 2011 hatten lokale Geschäftsleute Grundstücke von den Dorfbewohnern erworben. Da die Verkäufer erst nach dem Geschäftsabschluss feststellten, dass die gezahlten Preise unterhalb des marktüblichen Niveaus an dem boomenden Wirtschaftsstandort lagen, gingen sie auf die Straße. KPCh-Mitglied Lin wurde aufgrund seines beruflichen Hintergrunds zum Anführer der Aktion gemacht. Später riegelte die Polizei das Dorf ab, ein Demonstrant starb in Polizeigewahrsam.

Wukan liegt in der Provinz Guangdong an der Küste. (Grafik: DW)
Wukan liegt in der Provinz Guangdong an der KüsteBild: DW

Nach drei Monaten anhaltender Proteste schaltete sich ein hochrangiger Unterhändler der Provinz Guangdong ein. Die festgenommenen Demonstranten wurden freigelassen, der zuständige Parteisekretär seines Amtes enthoben. Dabei wurde ein Zugeständnis von signifikanter Bedeutung gemacht: Wukan durfte den Landrat selbst wählen. Die Wahlen fanden Anfang 2012 statt, frei, allgemein, direkt und geheim. Die internationale Presse durfte den Wahlvorgang beobachten. Und gewählt wurde der Rentner Lin Zulian, mit 68 Jahren. Aus seiner Heimat wurde sein Wahlkreis.

"Gebt uns Land und Parteisekretär zurück!"

Jetzt wollen die Dorfbewohner es nicht wahrhaben, dass der rechtmäßig gewählte Landrat nicht mehr dem Volk dienen darf. Am Wochenende teilte das Polizeipräsidium der Stadt Lufeng, das für Wukan zuständig ist, in einem offenen Brief und über soziale Medien mit, dass gegen Lin wegen Verdachts auf Amtsmissbrauch und Korruption ermittelt werde. "Wir rufen die Dorfbewohner auf, das Ermittlungsverfahren zu unterstützen, um die schwer errungene gesellschaftliche Stabilität nicht zu gefährden", hieß es weiter. Ferner droht die Polizei mit "harten Maßnahmen gegen Überreaktionen und Randalierer".

"Wir sind der Überzeugung, dass der Parteisekretär Lin nicht korrupt ist", sagt der Dorfbewohner Chen Bai im Telefoninterview mit der Deutschen Welle. "Den Tatbestand haben die Mächtigen frei erfunden. Sonst hätten sie ja die Festnahme nicht in der Nacht durchgeführt."

Die Demonstration am Montag fand unter strengem Polizeischutz statt. (Foto: Reuters)
Die Demonstration am Montag fand unter strengem Polizeischutz stattBild: Reuters/J. Pomfret

Die Dorfbewohner seien wütend, berichtet Chen. Die ranghöheren Behörden hätten versucht, die Menschen einzuschüchtern: "Sie sagen uns, wir sollten uns nicht an Unterschriftsaktionen beteiligen und keine Petition bei höheren Stellen einreichen."Augenzeugen berichten, dass seit Wochenende die Polizeipräsenz im Dorf verstärkt sei. Die Demonstration am Montag fand unter strengem Polizeischutz statt. Die Menschen in Wukan vermuten, dass die Festnahme mit einer von Lin geplanten Petition gegen die damaligen Grundstücksgeschäfte zu tun habe. In den Augen von Lin und den Betroffenen handelt es sich um nichts weniger als Landraub.

Nach seiner Amtseinführung hatte sich Lin dafür eingesetzt, die bereis abgeschlossenen Kaufverträge über die Grundstücke zu widerrufen beziehungsweise für ungültig erklären zu lassen. In den vergangenen Jahren tat sich da aber so gut wie nichts. Nun hatte Lin angekündigt, noch im Juni eine Dorfversammlung zum Thema Grundstücksverkauf einzuberufen und die Forderungen an die höheren Behörden weiterzugeben. Dabei handelte es sich um Kaufverträge, die schon rechtskräftig sind.

Großkundgebung in Wukan 2011 (Foto: Getty Images/AFP/P.Parks)
Großkundgebung in Wukan 2011Bild: Getty Images/AFP/P.Parks

Unruhestiftung durch Hongkonger Presse?

Der jetzige öffentliche Aufschrei sei ideologisch motiviert, kommentiert die nationalistische Tageszeitung "Global Times" in Peking. Es gehe jetzt in Wukan um den Streit über Eigentum an Grundstücken. "Vielerorts in China wird derzeit um Entschädigung nach einem Grundstücksverkauf gestritten. Viele fordern den Rückkauf bereits verkaufter Grundstücke. Aber selbst eine gewählte Regierung kann keine Eigentumsstreitigkeiten lösen", schreibt die "Global Times" in der Montagsausgabe.

Verschwörungstheoretiker in der lokalen Verwaltung bezichtigen vor allem die Hongkonger Presse der Einmischung. Shi Shuoyan, Pressesprecher der Stadt Shanwei, der Wukan zugeordnet ist, nannte die Hongkonger Zeitung "Apple Daily" und das Online-Nachrichtenportal "Initium Media" beim Namen, die die Unruhe in Wukan gestiftet haben sollen. Für die Parteispitzen in Guangdong und Peking ist Wukan wieder der Ort für einen Feldversuch geworden. Nur geht es diesmal um Regeln für faire Grundstücksgeschäfte.

Unter Mitwirkung von Lee Hang-Shuen