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Experimentelles Musiktheater

9. Juni 2010

Ein altes chinesisches Märchen, ein moderner Komponist, ein unkonventioneller Librettist, eine inspirierende Raumkünstlerin – die Ingredienzien für eine experimentelle Mischung. Das Labor: die Oper in Bonn.

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"Buch Asche" - eine Opernuraufführung in Bonn Angelika Luz(Jun)
Bild: Thilo Beu

Dieser Abend versetzt in einen seltsamen Schwebezustand. Im Theatersessel sitzend befindet man sich in einer Art Klangwolke. Musik kommt von rechts oben und links unten, aus der seitlichen Intendantenloge und von der Bühne. Sie ist verborgen hinter einer Art Gazevorhang, sie erfüllt den Raum wie die Luft, die wir atmen. Aber sie ist, in Gestalt des Bonner Beethoven-Orchesters, doch da. Der Orchestergraben, in dem sich die Musiker sonst drängeln müssen, ist verschwunden. Abgedeckt und unsichtbar ist er zur Spielfläche für Sänger und Tänzer geworden. Die Fläche verlängert sich wie ein Laufsteg bis weit hinein in den Zuschauerbereich. Hier ist nichts wie sonst üblich – wir verschwinden unter der Klangglocke und nehmen überrascht die Auflösung traditioneller Strukturen wahr.

"Buch Asche" - eine Opernuraufführung in Bonn Angelika Luz(Jun), Assaf Levitin(Xi); Ziv Frenkel, Bärbel Stenzenberger Olaf Reinecke(Tänzer)
Sänger und Tänzer gestalten den BühnenraumBild: Thilo Beu

Klänge. Bilder.

Ein Dirigent und sein ordnender Taktstock fehlen – Prinzip dieser Aufführung. Man organisiert sich, in Gruppen aufgeteilt, heute selbst. Monitore, die überall im Zuschauerraum aufgehängt sind, helfen den Musikern bei der Orientierung in einer höchst komplizierten Partitur, komponiert von dem Österreicher Klaus Lang. "Buch Asche." Mit Punkt! Es ist eine Partitur mit sechzig Einzelstimmen und so riesig, dass sie auf einem normalen Schreibtisch kaum Platz fände. Das Libretto wiederum – verfasst von Händl Klaus, Schauspieler, Regisseur und Autor aus Österreich – ist ein graphisches Gebilde: Worte in Silben zerlegt und durch Doppelpunkte getrennt. Kaum lesbar, kaum verständlich. Weshalb Händl Klaus uns den Text vor der Vorstellung erst einmal vorliest: China. Arme Bauern. Grausamer Kaiser. Geknechtetes Volk. Verbranntes Buch. Verwandlung von Asche in Kirschblüten. Träume. Bilder. All dies aber wird später in der Klangwolke verschwinden. "Oper ist Veränderung" sagt Klaus Lang, der Komponist. "Raumsprengend, raumgreifend", nennt Regisseurin Claudia Doderer das gemeinsame Konzept. Publikum, lass' dich ein, oder du bist verloren wie eine aufgegebene Raumkapsel!

"Buch Asche" - eine Opernuraufführung in Bonn Terry Wey(Kaiser Liu-Pi), Ensemble
Mit wallender Schleppe: "Kaiser Liu-Pi" (Terry Wey)Bild: Thilo Beu

Grau. Blutrot.

Das sinnliche Raum-Klang-Erlebnis wird komplettiert durch eine äußerst raffinierte und ihrerseits raumgreifende Bühneninstallation in Weiß-Grau Tönen mit nur wenigen, sehr gezielt eingesetzten Farbtupfern. Blutrot zum Beispiel für die schier endlose Schleppe des grausamen Kaisers. Die Schleppe wird von dienstbaren Geistern immer wieder neu geordnet, bildet Wellen, Schleifen, Schlingen, strömt und glänzt. Die Regie von Claudia Doderer setzt auf geradezu statische Langsamkeit. Traumwandlerisch bewegen sich Sänger und Tänzer im Raum.

Grummeln. Schrauben.

Der Treppenabstieg des jungen Countertenors Terry Wey in der Rolle des Kaisers – Schleppe, Kothurne - dauert gefühlte sechzig Minuten. Ungeduld kribbelt, bevor wir schließlich in eine Art Trance fallen, im Netz des "Tongespinsts" landen – wie Klaus Lang seine Musik gerne nennt. Wey singt derweil überirdisch schöne, klare, lang anhaltende Töne. Im Kontrast dazu grummelt Bass Assaf Levitin - in der Rolle des Bauern Xi – etwas eintönig um ein sehr tiefes "C". Seine Gattin Jun (Angelika Luz) muss ihren Sopran wiederum in allerhöchste Höhen schrauben. Der Komponist verlangt's. In unsere Trance schleicht sich ein wenig Bedauern für die Sänger.

Angelika Luz(Jun), Assaf Levitin(Xi) "Buch Asche" - eine Opernuraufführung in Bonn
Verloren im Raum: Jun(Angelika Luz) und Xi (Assaf Levitin)Bild: Thilo Beu

Chor. Streik.

Es gibt keine Requisiten, die Bühne wirkt seltsam leer. Dass der Bonner Opernchor durch Abwesenheit glänzt, fällt uns nicht auf. Die Chöre werden elektronisch eingespielt und Teil des Klanggewebes. Erst hinterher erfahren wir, dass vierzig Choristen vorgesehen, aber in Streik getreten waren. Drei Tänzer mussten kurzfristig den leeren Raum etwas beleben – eine Notlösung.

In Zeiten knapper Kassen ist der Mut zum Risiko an vielen deutschen Theatern - verständlicherweise - Mangelware. Seltener als früher werden jenseits der großen Metropolen noch theatralische Experimente gewagt. In Bonn hat man sich was getraut. "Wir wollten das jetzt machen", sagt Generalintendant Klaus Weise, der nicht nur auf Altbekanntes setzen möchte. Die Musiker aus dem Beethovenorchester zeigten sich begeistert von der Herausforderung. Mit dem Projekt "Buch Asche." demonstriert das Bonner Theater aber auch, dass es auf die Neugier und die Aufgeschlossenheit seines Publikums vertraut.

Autorin: Cornelia Rabitz

Redaktion: Petra Lambeck