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Brexit: Ökonomen fordern saubere Scheidung

Rolf Wenkel 24. Juni 2016

Die Ökonomen sind sich einig: Sowohl für Großbritannien als auch für Europa brechen nach dem Brexit harte Zeiten an. Aber sie schauen auch nach vorne: Wichtig sei jetzt eine saubere Scheidung und kein Rosenkrieg.

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Symbolbild Trennung
Bild: imago/Steinach

"Das ist kein guter Tag für Europa", sagt John Cryan, der britische Chef der Deutschen Bank. "Die Konsequenzen lassen sich noch nicht vollständig absehen. Sie werden aber für alle Seiten negativ sein. Sicherlich sind wir als Bank mit Sitz in Deutschland und einem starken Geschäft in Großbritannien gut darauf vorbereitet, die Folgen des Austritts zu mildern", versuchte Cryan zu beruhigen. Doch es half nicht viel - Aktien der Deutschen Bank verloren in den ersten Handelsminuten in Frankfurt rund 17 Prozent.

"Der ehemalige Umschlagplatz für europäische Finanztransaktionen, die City of London, wird massiv an Bedeutung verlieren", sagt Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. "Für die Europäer ist dies ebenfalls kein Grund zum Jubeln. Denn die Europäische Kommission hat jetzt harte Verhandlungen vor sich, in denen sie deutlich machen muss, dass ein Land nicht vom EU-Exit profitiert. Europa als Ganzes wird verlieren, erst recht, wenn weitere Auf- und Ablösungen folgen."

Der Brexit ist aus Sicht von DIW-Präsident Marcel Fratzscher "eine Katastrophe für alle Europäer". Der Ökonom rechnet mit enormen wirtschaftlichen Kosten für Europa und erwartet in Deutschland im kommenden Jahr ein deutlich geringeres Wirtschaftswachstum als zunächst angenommen. Großbritannien könnte in eine Rezession rutschen. "Ich erwarte kurzfristig große Verwerfungen an den Finanzmärkten und mittelfristig eine deutliche Abkühlung der Weltwirtschaft, auch ein erneutes Aufflammen der Finanzkrise durch Verwerfungen im Bankensektor ist wahrscheinlich", sagte Fratzscher. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung senkte seine Konjunkturprognose für Deutschland für das kommende Jahr deutlich um 0,5 Prozentpunkte.

Prognosen werden revidiert

Howard Archer, Volkswirt beim US-amerikanischen Wirtschaftsinformationsdienst IHS Global Insight, kappt die Wachstumsprognose seines Hauses für die britische Wirtschaft im laufenden Jahr von zwei auf 1,5 Prozent. Die volle Wirkung des Brexit wird sich nach seiner Ansicht erst im nächsten Jahr zeigen: Statt des ursprünglich geschätzten Plus von 2,4 Prozent werde die britische Wirtschaft mit einem Wachstum von 0,2 Prozent praktisch zum Stillstand kommen.

Der renommierte Ökonom Thomas Straubhaar sagt Europa nach dem Brexit-Votum turbulente Zeiten voraus. "Alle verlieren - die Volkswirtschaft insgesamt, Europa und als Folge von Unsicherheit und Echoeffekten wird auch die Weltwirtschaft darunter leiden", sagte der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. "Nichts wird in Europa mehr gehen, ohne das Damoklesschwert weiterer Austritte und ohne die ständige Angst davor, neue Gründe für einen Zerfall Europas zu liefern", sagte Straubhaar.

Der Internationale Bankenverband IIF fordert eine schnelle Klärung der künftigen Beziehung zwischen der EU und Großbritannien. Es liege nun in der Verantwortung der Politik, die Unsicherheiten für die Wirtschaft zu begrenzen, sagte IIF-Chef Tim Adams am Freitag in Washington. "Jetzt beginnt die schwierige Aufgabe, den britischen EU-Austritt zu gestalten."

Saubere Scheidung

Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sieht das ähnlich. Es komme jetzt darauf an, eine saubere Scheidung hinzubekommen. "Es geht vor allem darum, ob Großbritannien nach einem Verlassen der EU den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält", so der Experte. "Wichtig ist, dass die EU jetzt nicht die beleidigte Leberwurst spielt." Sie sollte ein starkes Interesse daran haben, mit den Briten in den kommenden zwei Jahren eine saubere Trennung zu vereinbaren. Das Land sei zweitwichtigster Handelspartner der EU, nach den USA und vor China. "Die EU hat ein großes wirtschaftliches Interesse daran, Zölle im Warenhandel zu vermeiden und das Land im Binnenmarkt zu behalten."

Ähnlich äußert sich der neue Präsident des Münchener Ifo-Instituts, Clemens Fuest. "Die Entscheidung der britischen Wähler für den Brexit ist eine Niederlage der Vernunft", sagte er am Freitag. "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt. Es ist wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibt."

Die Konsequenzen eines Brexit hat das Münchener ifo Institut bereits im Jahr 2015 in einer Studie für die Bertelsmann Stiftung untersucht. Damals warnten die Münchener Volkswirte: Ein Austritt Großbritanniens werde viele negative wirtschaftliche Folgen für das Land, aber auch für die EU und Deutschland haben. Im schlimmsten Fall würde der Freihandel gestoppt, würden die Binnenmarktregeln verfallen und Zollschranken wieder errichtet.

Drei Szenarien

Im günstigsten Szenario finden Großbritannien und die EU-Länder zusammen eine Lösung, die die Verluste auf beiden Seiten so gering wie möglich hält. Dies könnte nach der Norwegen-Regelung erfolgen: Trotz eines EU-Austritts würde Großbritannien durch den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im europäischen Binnenmarkt vertreten sein. Vorteile hätte diese Regelung besonders für Unternehmen, die im EU-Raum agieren. So würde sich an den Handelsvereinbarungen wenig ändern. Wie Norwegen müsste auch Großbritannien in die Gemeinschaft einzahlen. Bei der Rechtssetzung der EU dürfte Großbritannien aber nicht mehr mitreden.

Das zweite Szenario wäre eine Regelung nach dem Vorbild der Schweiz. Einigen sich Brüssel und Großbritannien darauf, dass sich Großbritannien von der EU abkoppelt, könnte ein Freihandelsabkommen nach dem Schweizer Modell vereinbart werden. Die Wirtschaftsbeziehungen mit der Schweiz werden in 120 Abkommen geregelt, die einen direkten Zugang zum EU-Binnenmarkt ermöglichen. Es würde nicht nur Jahre dauern, die Verträge für Großbritannien aufzusetzen, auch mit Handelshemmnissen müssten wir rechnen.

Im schlimmsten Fall würden die Europäer wenig Kompromissbereitschaft zeigen. Ein Freihandelsabkommen hätte keine Chance, und die Binnenmarktregeln würden verfallen. Der Handel würde dann wegen der Zölle richtig teuer werden - insbesondere für Großbritannien. Denn für die Briten ist der EU-Markt sehr viel wichtiger als Großbritannien für die allermeisten EU-Mitgliedstaaten. Aber auch auf deutsche Automobilunternehmer mit Produktionsstätten in Großbritannien würden höhere Kosten zukommen, schrieben die Forscher vom Ifo-Institut.