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Politik

Brexit-Chaos in London

Barbara Wesel
16. November 2016

Michael Gove will jetzt eine Blitz-Scheidung von der EU, während in London über den Planungsstand für den Brexit gestritten wird. Und Außenminister Boris Johnsons flotte Sprüche stoßen auf Ablehnung.

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Großbritanien Pro-EU-Kolumne von Boris Johnson aufgetaucht
Bild: Reuters/T. Melville

"Können wir die Dinge nicht vereinfachen?", fragt Michael Gove im neu geschaffenen Brexit-Komitee des britischen Unterhauses. Die Whitehall-Beamten machten alles nur unnötig kompliziert. Er schlägt deshalb eine Art "Blitz-Scheidung" von der EU vor: "Was, wenn ich einfach nur die EU verlassen will, Artikel 50 auslöse und lediglich Mindestvereinbarungen treffe, um gehen zu können?" Gove ist einer der führenden "Brexiteers" und will mit seinem Vorstoß wohl eine Debatte über die faktische und strategische Planlosigkeit der britischen Regierung beenden, die in den vergangenen Tagen in den Medien für Aufregung sorgte.

Kann ein Schnell-Brexit die Lösung sein?

Ein internes Memo der Wirtschaftsberater von Deloitte hatte Anfang der Woche Schlagzeilen gemacht: Darin schrieben die Experten im Dienste der britischen Regierung, es fehlten rund 30.000 Beamte, um die komplexen Brexit-Verhandlungen vorzubereiten, und nach wie vor gebe es bei den Beamten keinen erkennbaren Plan. Der Druck auf die Premierministerin steigt, eine Richtung für die Verhandlungen vorzugeben, die im April 2017 beginnen müssten. 

Diesen politischen Knoten will Michael Gove am liebsten einfach durchschlagen: Er stelle sich vor, dass man auf Übergangslösungen verzichtet, einfach die wirtschaftlichen Folgen in Kauf nehme und ohne Umwege den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen würde. Ein Vorschlag, den hohe Regierungsbeamte für weniger ideal halten: Besser sei es, über die Abwicklung und das künftige Verhältnis zur EU parallel zu verhandeln, wandte Sir Simon Fraser ein.

Belgien Brüssel EU Gipfeltreffen Premierministerin Theresa May
Theresa May will von Brexit-Chaos nichts wissen Bild: picture-alliance/AP Images/A. Grant

Er bestätigte übrigens auch vor dem Parlamentsausschuss, dass die Regierung noch ziellos im Kreis rudert: "(Man ist) noch im Stadium der Informationsbeschaffung und hat noch keinen zentralen Plan." Die Regierung müsse jetzt den "Turbo" einschalten, wenn sie im Frühjahr Artikel 50 auslösen wolle: "Wir haben noch nicht genug Fortschritte gemacht, und die Zeit drängt".  

Premierministerin Theresa May dagegen wiederholte in der Fragestunde im Unterhaus, sie werde auch weiterhin keine Vorabinformationen über die Verhandlungsziele geben. Aber alle Vorbereitungen liefen wie vorgesehen, von Chaos in London könne keine Rede sein. 

Boris bleibt Boris

Ihr Außenminister allerdings, Dampfplauderer Boris Johnson (Artikelbild), hatte das zweitägige Treffen mit seinen europäischen Kollegen in Brüssel genutzt, um erneut Verwirrung über die Position seiner Regierung zu stiften: Er gehe davon aus, dass Großbritannien die Zollunion verlassen, aber weiter im Binnenmarkt freien Handel treiben werde, sagte Johnson einer tschechischen Zeitung im Interview. Und darüber hinaus wiederholte er einmal mehr, die Freizügigkeit für Personen habe nichts mit dem Binnenmarkt zu tun, das sei "Quatsch".  Was ihm eine Abmahnung vom Brexit-Unterhändler des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, eintrug: "Ich kann es kaum erwarten, ihm Artikel 3 der Römischen Verträge vorzulesen", wo genau diese Verbindung beschrieben wird.

Der niederländische Finanzminister Jeroen Dijsselbloem setzte im Gespräch mit der BBC noch einen drauf: "Er (Johnson) sagt Dinge, die intellektuell unmöglich sind und politisch unerfüllbar. Ich glaube also, er gibt den Briten keine faire Darstellung dessen, was möglich und in den Verhandlungen erreichbar ist." Dijsselbloem, der auch Chef der Eurogruppe ist, warnte einmal mehr vor den wirtschaftlichen Folgen: "Es wird eine Lose-Lose-Situation, und bestenfalls lassen alle die Gefühle beiseite und versuchen eine Vereinbarung zu finden, die beide Seiten am wenigsten schädigt."

Großbritannien Parteikongress der Konservativen in Birmingham
Welchen Brexit hätten sie denn gerne? Bild: Getty Images/C. Court

Suche nach vernünftiger Lösung

"Wir müssen bei der Logik bleiben, wenn wir den Weg der Vernunft verlassen, müssen wir mit den Konsequenzen leben", mahnt auch Maria Demertzis vom Think Tank Bruegel in Brüssel. Sie beobachtet das anhaltende Brexit-Chaos mit Ironie, denn was immer man jetzt sage, das werde so garantiert nicht passieren: "Vorhersagen haben keinen Wert mehr." Allerdings meint sie zum Modell eines Crash-Brexit: "Wie ein Politiker seinen Wählern das verkaufen will, ist rätselhaft. So etwas sollten wir uns wirklich nicht wünschen. Obwohl inzwischen ja alles passieren kann."

Mit dem Wählerwillen scheinen Goves und Johnsons Ideen aber weniger zu tun zu haben. In einer neuen Umfrage des britischen Sozialforschungsinstituts NetCen erklärten jetzt 90 Prozent der Befragten, dass sie im Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben wollten. Und 49 Prozent der Briten sind danach sogar bereit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit weiter hinzunehmen, wenn das der Preis für den Zugang zum EU-Markt ist.

Vertrauen in die britische Justiz

Großbritanien Brexit Schlagzeilen nach Urteil des Oberen Gerichts
Oberste Richter wurden in der Presse für ihr Brexit-Urteil beschimpft Bild: picture-alliance/AP Photo/T. Ireland

"Wenn die Berufung beim Supreme Court keinen Erfolg hat, dann muss das Parlament in den Brexit-Prozess einbezogen werden", sagt Maria Demertzis. Sie hofft auf die demokratischen Traditionen und die Kraft der britischen Justiz. Dann nämlich könne jeder Abgeordnete eigene Zusätze an den Brexit-Beschluss anfügen, und das werde das Verfahren enorm in die Länge ziehen. "Es ist quasi unmöglich, dass May dann den März-Termin einhält."

Gegenwärtig aber sei die ganze Brexit-Diskussion ein völliges Durcheinander. Vier Monate nach der Volksabstimmung gebe es keinen Plan und nur widersprüchliche Meinungen über Art und Form des britischen Abschieds. "Der Rest Europas wartet auf die Briten, und die Unsicherheit hält an", das richte schon jetzt wirtschaftlichen und vor allem politischen Schaden an. Wie aber die Verhandlungen am Ende verlaufen und welche Ziele verfolgt würden, hänge sehr stark von den Wahlen im nächsten Jahr ab: "Die Wahlen besonders in Frankreich und in Deutschland sind entscheidend. Wenn da etwas schief geht, ist am Ende alles möglich."