Wird China Bremsklotz der Weltwirtschaft?
22. Dezember 2022Wenn die Weltbank von "erheblichen Risiken" beim Blick auf Chinas Konjunkturaussichten spricht, dann ist das schon mehr als deutlich. Wenn aber die Banker aus Washington ihre Wachstumserwartungen für China auf nur noch 2,7 Prozent Wirtschaftswachstum im laufenden und 4,3 Prozent im kommenden Jahr zusammenstreichen, dann ist das schon mehr als ein Warnsignal. Es sendet die unmissverständliche Botschaft aus, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt in großen Schwierigkeiten steckt.
Denn die plötzliche Kehrtwende der Pekinger Führung von einer knallharten Null-Covid-Politik hin zu einer kompletten Abschaffung fast aller Pandemie-Maßnahmen, sorgt für Unsicherheiten weit über das Land hinaus. Dazu kommt die seit vielen Jahren schwelende Immobilienkrise im Land. Im Juni hatte die Weltbank noch eine Plus von 4,3 Prozent für 2022 und ein Wachstum von 8,1 Prozent für das Jahr 2023 prognostiziert - Wachstumsraten, die zumindest für 2023 in weite Ferne rücken.
Besonders der Verlauf der Pandemie lässt die Sorgenfalten auf den Gesichtern der Finanz-Analysten weltweit immer tiefer werden. All das, was bis zur ersten Dezemberwoche als völlig undenkbar galt, trat ein: Die chinesische Regierung hörte auf flächenmäßig zu testen und erlaubt es Infizierten, sich zu Hause zu isolieren und auszukurieren; man darf bei keinen oder auch geringen Symptomen sogar zur Arbeit gehen.
Angst vor Ansteckung fegt Straßen leer
Zugleich verzeichnet das Land derzeit so viele Corona-Ansteckungen wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Besonders die Hauptstadtregion Peking ist betroffen. Aus Angst, sich anzustecken, bleiben viele Chinesen zu Hause, was den Konsum stark beeinträchtigt. Viele Geschäfte sind geschlossen, Grippe-Medikamente sind Mangelware. Wenn sich herumspricht, dass es irgendwo das antivirale Medikament Paxlovid gibt, ist es in wenigen Stunden ausverkauft. Teilweise zahlen verängstigte Menschen über 800 US-Dollar auf dem Schwarzmarkt für eine Packung des Pfizer-Medikaments, das gegen einen schweren Covid-Verlauf schützen soll. In zahlreichen Apotheken soll man dazu übergegangen sein, Paracetamol einzeln zu verkaufen, weil die Lager der Pharma-Großhändler leergefegt sind.
Mit einer überraschenden Kehrtwendung hatte die Führung in Peking Anfang Dezember ihre knallharte Null-Covid-Politik mit Massentests, digitaler Überwachung, rigider Abschottung von Infizierten und großflächigen Lockdowns aufgegeben. Zuvor hatten Demonstranten in Shanghai und anderen Wirtschaftsmetropolen des Landes ein Ende des starren Covid-Kurses und vereinzelt sogar die Absetzung Xi Jinpings gefordert. Die Warnungen der Staats- und Parteiführung vor der lebensbedrohlichen Krankheit hörten schlagartig auf. Stattdessen verglichen Behördenvertreter und Virologen Covid-19 mit einer "normalen Grippe" oder bagatellisierten sie zu einer bloßen Erkältung.
Seitdem sind die Zahlen der Infizierten in die Höhe geschossen und Videos aus völlig überfüllten Krankenhäusern kursieren in den sozialen Netzwerken. So hat die Corona-Welle die chinesische Wirtschaftsmetropole Shanghai mit voller Wucht erfasst. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters wies das Shanghaier Deji-Krankenhaus sein Personal an, sich auf einen "tragischen Kampf" mit Covid-19 vorzubereiten. Die Hälfte der 25 Millionen Einwohner der Stadt werde sich bis Jahresende infizieren. Bereits jetzt seien Schätzungen zufolge rund 5,4 Millionen Einwohner infiziert, schrieb das Krankenhaus auf seinem offiziellen Kanal auf dem chinesischen Messengerdienst We Chat.
Im Großraum Peking soll es so viele Covid-Tote geben, dass die Krematorien rund um die Uhr arbeiten müssten, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Experten berufen sich dabei auf Satellitenaufnahmen und Analysen der Luft, die einen solchen Dauerbetrieb untermauern. Mittlerweile werden die Krematorien von der Polizei abgeschirmt. Zu groß ist die Diskrepanz zu den offiziell in Peking gemeldeten Zahlen von Covid-Todesopfern im einstelligen Bereich.
Dauerkrisenherd Immobilienmarkt
Die Weltbank verweist bei ihrer deutlichen Revision der Konjunkturaussichten außerdem auf die Krise des Immobilien- und Bausektors, der in China rund ein Viertel der Wirtschaftsleistung ausmacht. Nach jahrelangem Anstieg sind die Immobilienverkäufe in vielen Städten im Rückwärtsgang, eine ganze Reihe von Immobilien-Entwicklern und Bauträgern kämpfen ums Überleben. "Die anhaltenden Spannungen im Immobiliensektor könnten breitere makroökonomische und finanzielle Auswirkungen haben", warnt die Weltbank.
China hatte sich Anfang des Jahres ein Wachstumsziel von rund 5,5 Prozent für 2022 gesetzt, was mittlerweile unerreichbar geworden ist. Und selbst dann wäre es immer noch die geringste Steigerung des Bruttoinlandsproduktes in vier Jahrzehnten, abgesehen von 2020, dem ersten Jahr der Pandemie.
Krisenmanagement bei Unternehmen und weniger Jobs
Dazu kommt die hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Chinesen: Sogar nach den offiziellen Zahlen der chinesischen Statistikbehörde (National Bureau of Statistics of China) war die Arbeitslosenrate von Chinesen im Alter von 16 bis 24 Jahren im Juli 2022 auf knapp 20 Prozent geklettert. Im November lag sie zwar nach offiziellen Zahlen "nur" noch bei 17 Prozent, aber durch neue Covid-Maßnahmen drohten neue Jobverluste.
Jetzt machen immer häufiger Berichte über einen Arbeitsplatz-Abbau bei einzelnen Unternehmen die Runde. So hat etwa der chinesische Smartphone-Hersteller Xiaomi gerade bestätigt, Tausende Stellen zu streichen. Betroffen sind Beschäftigte im Smartphone- und Internetdienstleistungsgeschäft. Ein Sprecher sagte am vergangenen Dienstag, dass die "Personaloptimierung und betriebliche Glättung" weniger als zehn Prozent der Belegschaft betreffe. Ende September waren nach Angaben der Hongkonger Zeitung South China Morning Post 35.314 Menschen bei Xiaomi beschäftigt. Das Unternehmen hatte wegen der Konsumflaute durch die harten Corona-Restriktionen zuletzt herbe Umsatzeinbußen verkraften müssen.
Die Wirtschaft muss jetzt mit dem plötzlichen Kurswechsel der Pekinger Führung zurechtkommen. Von der Unterbringung der Arbeiter in den Betrieben über das Horten von Medikamenten oder die Bereitstellung von Betten und Desinfektionsmitteln: In Chinas Fabriken wird derzeit alles getan, um die Produktion am Laufen zu halten und die Lieferketten nicht reißen zu lassen. Mit Kreativität und Hamster-Strategien stemmen sich Chinas Industriebetriebe dem Ansturm von Covid-Fällen entgegen.
Nach fast drei Jahren rigider Eindämmungspolitik muss die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt im Schnelldurchgang lernen, wie man ohne staatliche Vorgaben mit einer Infektionswelle klarkommt.
"Die chinesische Führung will raus aus der Null-Corona-Politik, aber sie ist nicht darauf vorbereitet. Es fehlen Intensivbetten, die alten Menschen sind unzureichend geimpft", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank im Gespräch mit der DW. "Bei uns war es so: Als wir herausgingen aus den starken Corona-Beschränkungen, da haben wir in Deutschland eine Erholung gesehen. Aber der Ausstieg aus der Null-Corona-Politik in China wird nicht so glatt laufen", ist Krämer überzeugt. Denn es bestehe die Gefahr, "dass mit einer Lockerung der Corona-Beschränkungen die Epidemie wieder voll hochfährt und die Menschen aus Angst vor Ansteckung sich selber isolieren und die Wirtschaft dann wieder in den Rückwärtsgang geht", erklärt der Commerzbank-Experte. "Der Ausstieg aus der Null-Corona-Politik wird sehr schwierig werden für China."
Banger Blick nach China
Und Chinas Wirtschaftspartner rund um den Globus halten den Atem an, wie lange Chinas riesiges Netzwerk von Fabriken, das für fast ein Drittel der weltweiten Industrieproduktion sorgt, weiter produzieren kann.
Sinopec vergleicht seine Maßnahmen zur Abwehr von Infektionen mit einem Krieg. Der chinesische Öl- und Erdgaskonzern, der einen großen Teil von Chinas Raffinerien betreibt, hat immer wieder die Notfallpläne zur Aufrechterhaltung seiner Produktion durchexerziert, berichtet Bloomberg. Wichtige Mitarbeiter werden vom Rest der Belegschaft isoliert, eine Urlaubssperre ist in Kraft. Der Elektro-Autobauer Nio hat Lkw-Ladungen voll mit medizinischem Material und Ausrüstung für seine Mitarbeiter beschafft, um die Produktion am Laufen zu halten.
Was passiert, wenn das sich das Virus erst einmal in einer Fabrik ausbreitet, erlebte Apple bei seinem wichtigsten Auftragsfertiger Foxconn im Herbst. Arbeitsausfälle durch Lockdowns und die zeitweise Massenflucht von Mitarbeitern aus der abgeriegelten Fabrik in Zhengzhou waren die Folge. Dort wo fast alle iPhone-Spitzenmodelle für den Weltmarkt entstehen, sorgten die Produktionsausfälle dafür, dass das Weihnachtsgeschäft für die Pro-Modelle des iPhone 14 ins Wasser fiel.
Volkswagen und BMW steuern gegen
Der gleiche Kampf gegen Covid wurde vor einer gefühlten Ewigkeit in den Betrieben und Fabriken in den USA und Europa geführt. Die Erfahrungen von damals zeigen, wie schwierig es ist, das Virus vollständig aus den Fabriken fernzuhalten.
Volkswagen lässt in der Woche vor Weihnachten mindestens drei Tage lang einen Teil seiner Mitarbeiter in zwei Schichten jeweils 11 Stunden arbeiten. So will man Produktionsausfälle im Werk Foshan in der Provinz Guangdong ausgleichen, berichtet Bloomberg unter Berufung auf einen Firmeninsider. Die Änderungen seien vorgenommen worden, nachdem sich zu viele Arbeiter krank gemeldet hatten. Das FAW-Volkswagen-Werk in Foshan hat eine jährliche Produktionskapazität von 600.000 Einheiten und stellt sowohl VW- als auch Audi-Modelle her.
Die ersten großen Covid-Ausbrüche seit der Abschaffung der meisten Pandemie-Maßnahmen konzentrierten sich zwar auf Großstädte wie Peking, doch mittlerweile dehnt sich die Omikron-Welle offenbar auch auf wichtige Industrieregionen aus. Aus einem Bereich des BMW-Werks im nordchinesischen Shenyang wurde ein Covid-Ausbruch gemeldet, so dass BMW neue Arbeiter als Ersatz für die an Corona Erkrankten einstellen musste.
Unternehmen horten Medikamente
Inzwischen ist das Virus auch auf die Finanzindustrie Chinas übergesprungen und führt dazu, dass sich zahlreiche Aktien-, Anleihe- oder Rohstoffhändler krank melden. Dass Chinas Fabriken in manchen der von Peking oder Shanghai weit entfernten Industrieregionen oder kleineren Ballungszentren vom Virus verschont werden, ist eher unwahrscheinlich. Anders als in westlichen Industrieländern trifft das Virus auf eine schlecht immunisierte Bevölkerung, weil sich Chinas Staats- und Parteiführung hartnäckig weigert, wirksame mRNA-Impfstoffe aus den USA oder Deutschland zu importieren. Immerhin ist mittlerweile die Einfuhr des Biontech-Impfstoffs für die Immunisierung der rund 20.000 in China lebenden Deutschen erlaubt worden.
Studie malt Negativ-Szenario
Für Aufsehen sorgte Mitte Dezember eine Studie der Universität Hongkong, die wegen der abrupten Öffnungspolitik der chinesischen Führung davor warnt, dass ohne eine effektive Booster-Kampagne bis zu eine Million Menschen durch Covid sterben könnten. Eine langsamere Öffnung ab Januar, begleitet von weiteren Impfungen und dem verbesserten Zugang zu antiviralen Medikamenten könnte die Todeszahlen dagegen um mehr als ein Viertel senken, prognostizierten die Hongkonger Forscher um den Mediziner Gabriel Leung.
"Die Erfahrung im Rest der Welt ist, dass man es nicht aufhalten kann", sagt Maximilian Butek, Leiter der deutschen Handelskammer in Shanghai. "Die Unternehmen riskieren, dass alle Mitarbeiter infiziert werden und dann niemand mehr in der Fabrik ist."
Der Volkswagen-Konzern kämpft noch immer mit den Folgen der Pandemie und den Nachwehen der Lieferproblemen etwa bei Elektronikbauteilen. In den ersten elf Monaten diese Jahres verkaufte der Wolfburger Konzern 9,2 Prozent weniger Fahrzeuge. Besonders deutlich ging es aber im November in Westeuropa aufwärts. Hier legten die Verkäufe um fast ein Drittel zu. Mit 247.700 Fahrzeugen lag die Region damit sogar vor dem sonst wichtigsten Markt China, wo der Absatz diesmal um fast acht Prozent zurückging.
Das Ende der restriktiven Null-Covid-Maßnahmen in China stößt an den Finanzmärkten auf ein geteiltes Echo. "Die positive Reaktion auf die Wiedereröffnung weicht allmählich der Erkenntnis, dass es für China ein holpriger Weg sein wird, bis es soweit ist", bringt es Kerry Craig von JP Morgan Asset Management auf den Punkt. Sobald sich das Land aber wieder vollständig geöffnet habe, werde China wieder "zu einer Wachstumsstory für die ganze Welt".