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Blicke auf WM-Deutschland

23. Juni 2006

Selten befanden sich so viele internationale Journalisten in Deutschland wie zu dieser WM. Selten wurde weltweit so viel über Deutschland geschrieben. DW-WORLD.DE gibt einige Stimmen wieder.

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Deutschland ist in diesen WM-Tagen allgegenwärtig in der spanisch-sprachigen Presse. Abgesehen von den Berichten über die Fußballereignisse selbst, gibt es viel Buntes zu erfahren. Zum Beispiel, dass die deutsche Polizei mexikanischen Fans ohne Hotel eine Übernachtungsmöglichkeit verschafft hat, oder dass die deutsche Jugend so diszipliniert ist, dass tatsächlich bei einer Party unter freien Himmel um 11 Uhr nachts die Musik abgestellt wurde, wie es die Vorschriften verlangen.

Hauptstadt-Party

Die Fan-Partys auf der Straße, die Besonderheiten der deutschen Gastronomie und überhaupt alles, was um die WM geschieht, wird ausführlich beschrieben. Zum Beispiel, "Clarín", aus Buenos Aires, betitelt eine Story: "Berlin lebt eine Party und das Volk hat den Glauben zurückerlangt". Darin liest man:

"Die Hauptstadt Deutschlands zeigt viele Menschen auf der Straße, die die WM mit der Freude eines Gastgebers erleben. Die Siege der Mannschaft ließen gleichzeitig im Team von Jürgen Klinsmann das Vertrauen wachsen. (...) Deswegen ist das Fan-Fest (die Fanmeile im Zentrum der Stadt) ein Fluss der Leidenschaft, wo Fußball und Bier Hand in Hand gehen. Man singt, man schreit, man lacht, man lebt ..."

Patrioten

Abgesehen vom bunten Geschehen in Deutschland, wird auch etwas Tiefgründigeres dokumentiert. Zum Beispiel, dass Patriotismus wieder erlaubt ist. "El Universal" aus Mexiko schreibt:

"Die kollektive Buße dauerte 61 Jahre und ging zu Ende dank des Fußball-Wunders. Zum ersten Mal in seiner Nachkriegsgeschichte haben die Deutschen einen neuen Nationalstolz, der freiwillig jahrzehntelang unterdrückt wurde wegen der schweren historischen Last, die das Land nach dem Verschwinden des Dritten Reichs geerbt hat. (...) Die Fahnen sind überall. An Autos, auf Balkonen, in Geschäften, Restaurants und Bars. Dank der WM. Deutschland hat sich in schwarz, rot, gold gekleidet, die Farben der Nationalflagge, mit einem im Land nie zuvor gesehenen Enthusiasmus."

Lesen Sie weiter: Die Probleme eines chinesischen Journalisten, ein Mitbringsel "made in Germany" zu ergattern

WM "Made in China"

Der Journalist Du Wang, der fürs Sportressort des großen Internetportals Sohu berichtet, wollte aus der WM-Stadt Köln einige echt deutsche WM-Souvenirs für seine Familie und Freunde in China mitbringen - ohne großen Erfolg:

"In Köln, rundum den Dom verkaufen Dutzende von kleinen Läden Souvenirs an Touristen und in der Regel entdeckt man beinahe bei allen Sachen den Schriftzug 'Made in China'. Das gilt besonders für WM-Souvenirs, seien es das Maskottchen GoLeo, Trikots oder Fan-Schalen - alles Made in China. Für uns Touristen aus dem Reich der Mitte ist 'Made in China' schon ein Problem, denn wir haben kaum eine Chance, hier in Europa ein preiswertes, aber auch authentisches Mitbringsel zu ergattern."

Bayerische Gemütlichkeit

Zijian Wang, Sportjournalist von Xinhua News Agency aus China war bei dem WM-Eröffnungsspiel live dabei. Nach seiner Schilderung scheint die bayerische Hauptstadt mit Fußball nichts zu tun zu haben:

"Während meines einwöchigen Aufenthalts in München habe ich in dieser Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern nur die Stille gespürt. Acht Uhr morgens am Montag: In Peking wären die ganzen Straßen im Zentrum ein schierer Großparkplatz, in München auf der Straße habe ich dagegen keinen Menschen gesehen. Die Stadt des WM-Eröffnungsspiels hat sich nicht besonders für die WM aufgeputzt und ohne vorher informiert zu sein, kann man sich kaum vorstellen, dass hier der Ball rollt."

Rechtsstaatlichkeit

Der Reporter Su Liu vom "Chongqing Morgenblatt" wollte eine exklusive WM-Story schreiben, und es ist ihm auch mehr als gelungen. In der kleinen Stadt Wangen an der deutsch-österreichischen Grenze lauerte er vergeblich vor dem Hauptquartier der Mannschaft aus Togo auf ein Interview. In seiner Verzweiflung und mit freundlicher Hilfe eines deutschen Fans kletterte er über den Zaun und erreichte so den Trainingsplatz. Folge war ein 4-stündiges polizeiliches Verhör und eine Geldstrafe von 250 Euro wegen Hausfriedensbruchs. Su Liu meinte dazu:

"Hausfriedensbruch? Ich bin doch in kein Haus eingebrochen! Es ist ein öffentliches Sportgelände. Nach chinesischer Mentalität wäre die ganze Sache übertrieben, denn ich habe schließlich nur das getan, was auch ein leichtsinniges Kind getan hätte. Für mich war es nur eine journalistische Pflichtübung, kein Verbrechen. Die Deutschen denken aber anders: Auch ein Journalist soll für sein unbefugtes Eindringen belangt werden. Außerdem kann man nicht ausschließen, dass ein Terrorist sich als Journalist tarnen könnte. Die Deutschen sind absolut unbeweglich, wenn es um die Rechtsordnung geht. Sie lassen jede vom Gesetz verlangte Prozedur über sich ergehen - ohne Kompromiss. Die Polizeibeamten haben zwar Sympathie für mich gezeigt, aber das deutsche Gesetz kennt keine menschliche Sympathie.

Zum Beginn des Verhörs bin ich über meine Rechte belehrt worden: Sie haben das Recht zu schweigen, bis Ihr Rechtsanwalt anwesend ist. Was Sie jetzt sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. - Diesen Satz kannte ich bisher nur aus Krimi-Soaps aus Hongkong."

Lesen Sie weiter, wie in England und den USA berichtet wird.

The New York Times: Meer von schwarz-rot-gold

"Sie ist überall. Sie hängt aus Fenstern, fliegt auf Autos und formt sich zu einem beweglichen Meer von schwarz, rot und gold in den Stadien, in denen die deutsche Mannschaft - ein Favorit der WM 2006 - spielt. Die deutsche Fahne, die in der Nachkriegszeit lange das Gewicht der Zurückhaltung von offenen Bekundungen nationalen Stolzes zu tragen hatte, fliegt wieder als Ausdruck einer Ausgelassenheit während Deutschland WM-Gastgeber ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren sich die Deutschen nicht sicher, ob es angebracht war, Zeichen ihrer Vaterlandsliebe zu setzen. Über Jahrzehnte wurde Patriotismus mit Nationalismus in seiner schrecklichsten Ausprägung - dem blinden Gehorsam gegenüber einem bösartigen Führer - gleichgesetzt. Wenn Deutsche Deutschland liebten, so gehörte es trotzdem nicht zum guten Ton, dies mit Symbolen wie der Fahne zur Schau zu stellen. Die neue Darstellung des Stolzes ist fast anstrengend un-nationalistisch. Es gibt sogar deutsche Autos, die sowohl die deutsche als auch eine andere Flagge zeigen - die brasilianische scheint besonders beliebt zu sein, vielleicht, weil Brasilien ein möglicher Gegner der Deutschen ist, falls sie es bis zum Finale schaffen."

Los Angeles Times

"Die Nation hat Verleugnung, Schuldgefühle, Ärger, Sühne und Anerkennung durchgemacht. Identitätssymbole wurden selten hochgehalten und Patriotismus wurde außerdem durch die Teilung des Landes in einen demokratischen Westen und einen kommunistischen Osten verkompliziert. Die Einheit brachte Sorge vor einem wieder erstarkenden Nationalismus mit sich, aber dies geschah nie - vor allem, weil die jüngeren Generationen die Fesseln der Vergangenheit abwarfen. Die WM unterstreicht einen neuen Trend, der Deutsche sich in ihrer Haut wohler fühlen lässt. Sie konzentrieren sich auf ihre kulturelle und nicht ihre politische Identität."

The Times (London)

"Es scheint, als ob die Deutschen sich entschlossen haben, dass es - nach einer langen Pause aus Gründen, die wir am besten nicht erwähnen - für einen Deutschen wieder in Ordnung ist, patriotisch zu sein. Es gibt keinen Grund für Peinlichkeit, wenn jemand "Deutschland" beim Fußballspiel ruft und die deutsche Flagge fliegen lässt. Wir können das aushalten. Ehrlich. Es wird uns nicht verrückt machen. Warum nicht? Die Leute, die die großen Verbrechen begangen haben, sind tot oder senil; was sie getan haben, ist etwas, das man in Büchern lernt: etwas, das anerkannt, akzeptiert und unvergessen ist. Aber das moderne Deutschland - florierend, demokratisch, und vor allem vereint - hat genauso viel Recht wie jede andere ehemalige Weltmacht, seine Existenz zu feiern und seine Jungs bei einem Fußballspiel anzufeuern. Der Grund ist vielleicht auch, dass Deutschland den Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus erkannt hat. Ein Nationalist denkt, dass sein Land per Definition besser ist als alle anderen, dass es Rechte über allen anderen hat, und das etwas ganz schief gelaufen ist, wenn sein Land die WM nicht gewinnt. Einige Unterstützer einer gewissen Inselnation fallen in diese Kategorie. Ein Patriot aber ist damit zufrieden, die Beziehung zu seinem eigenen Land zu genießen - und zu hoffen, dass die WM ein verdammt gutes Erlebnis wird.

Lesen Sie weiter: Russische Beobachtungen in Fußball-Deutschland

Die russische Boulevardzeitung "Moskowski Komsomolez" schreibt:

"Die Menschen hetzen wie vom Teufel gejagt durch die Straßen: die einen in Autos, die anderen auf Motorrädern, manch einer gar zu Fuß. Sie schwenken das Schwarz-Rot-Gold, krakeelen mit bierrauhen Stimmen 'Deutschland, Deutschland!'. Die Halbstarkenfraktion schließt sich derer an: 'Ins Finale! Ins Finale!' Fast alle Deutschen glauben an den Kampfgeist ihrer Mannschaft und rechnen mit ihr im Finale. Bei jedem Spiel der Deutschen steht das öffentliche und politische Leben des Landes still. Und je mehr Tore die deutsche Elf schießt, desto weniger Beachtung finden landespolitische Miseren. Die Regierung will – vom Fangrölen übertönt - klammheimlich unpopuläre Lösungen durchkriegen, wie zum Beispiel neue Steuerregelungen."

"Vorbildliche Ordnung"

Die Tageszeitung "Trud" veröffentlichte ein Interview mit dem ehemaligen sowjetischen Fußballstar Jewgeni Lowtschew. Die Legende berichtet über seine Erfahrungen während der WM:

"In Deutschland herrscht überall vorbildliche Ordnung. Und dass bei diesem kolossalen Fan-Ansturm aus der ganzen Welt. Die Spiele sind zwar ausverkauft, man vermisst jedoch das Vormatch-Gedränge vor den Stadien. Kaiser Franz und seine Kollegen haben ganze Arbeit geleistet."

Allgegenwärtiges ZDF

Die Sportzeitung "Sowetskij Sport" bewundert die Popularität des Fußballsports in Deutschland:

"Spielübertragungen obliegen voll und ganz dem ZDF. Für deutsche Hausfrauen brechen harte Zeiten an: Talkshows und Seifenopern mussten dem Topthema WM weichen. Der Kanal sendet morgens bis abends live. Unter den Studiogästen sind neben Politikern, Fußball- und Showbiz-Stars auch Normalbürger. Angeregte Diskussionen rund um die Fußball-Uhr. Leider liegen in Russland die Quoten derartiger Sendungen weit unterhalb des Niveaus einer jeden Groschenserie."

Lesen Sie weiter: Was ein brasilianischer Sport-Journalist über deutsche Essen zu erzählen hat.

Daniel Piza bloggt seine WM-Eindrücke in der brasilianischen Tageszeitung "O Estado de S. Paulo"

"Das Olympiastadion in Berlin ist jetzt eine ultramoderne Arena mit 66.000 Plätzen, mit einem perfekten Rasen und starker Akustik. Der Presseraum ist größer als alle Redaktionen, die ich bisher besucht habe, voller Plasma-TVs, wo man sofortigen kabellosen Zugang zum Internet hat."

"Essen hier ist ein Problem. Nicht, dass das deutsche Essen schwer wäre. Das Problem ist, dass wir bisher wenig davon probieren konnten. Da die Zeitverschiebung zu Brasilien fünf Stunden beträgt, haben wir hier erst gegen Mitternacht Redaktionsschluss. Aber um diese Zeit haben die wenigsten Restaurants in Sulzbach noch auf. Da profitieren eher die italienischen und portugiesischen Restaurants in der Umgebung. Unser Glück ist, dass es um diese Jahreszeit viele Straßenfeste in den Städtchen der Region gibt, wo man dann Wurst und sehr leckere Steaks mit Brot essen kann. Von Vorteil ist auch, dass wir von einer Erdbeer-Plantage umgeben sind, in denen man gegen Bezahlung persönlich pflücken kann."

Die Zeitung "Correio da Bahia" berichtet:

"Die deutsche Organisation macht sich in der Funktionalität der Städte bemerkbar, mit ihren Transport- und Abfallbetrieben und anderen öffentlichen Diensten, in der Erziehung seiner Bürger und in der Beachtung der Gesetze. Trotz der schweren Vergangenheit weiß die neue Generation, wie man Touristen empfängt."

Zusammen gestellt von Fengob Wang, Claudia Herrera-Pahl, Mathis Winkler, Alexej Knelz, Roselaine Wandscheer und Martin Schrader.