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Biennale der Gegensätze

Stefan Dege27. Mai 2016

Ist die Architektur die politischste aller Künste? Das könnte man vor einem Rundgang über die Architektur-Biennale in Venedig durchaus denken. Aber sie schwelgt dieses Jahr in Gegensätzen.

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Revolutionspanorama im Russischen Biennale-Pavillon (Foto: Stefan Dege, DW)
Bild: DW/S. Dege

Vögel zwitschern in den zartgrünen Alleen. Unter den Füßen knirscht der Kiesweg. Eine warme Brise weht von der Lagune her. Es riecht nach Frühling zwischen den Pavillons des Biennale-Parcours. Doch wer glaubt, seinen Sinnen uneingeschränkt trauen zu können, irrt: Multimedialer ging es selten zu auf der Weltarchitekturschau am Lido. Digitalität ist angesagt. Flimmernde Bildschirme, bizarre Lichteffekte, dazu webbasierte, dreidimensionale Installationen. Wie könnte das anders sein, im Jahr 2016, am Ausgang des postindustriellen Zeitalters?

Belebte Alleen auf der Architekturbiennale 2016 (Foto: Stefan Dege, DW)
Belebte Alleen auf der ArchitekturbiennaleBild: DW/S. Dege

Doch es geht auch anders, sinnlicher: Gleich im ersten Pavillon, wo Biennale-Leiter Alejandro Aravena seine Hauptausstellung "Reporting from the front" eingerichtet hat, riecht es nach Müll. Der polnische Architekt Hugon Kowalski hat große Mengen an Altpapier, Altglas, Plastikflaschen und Metallen sortiert und aufgestapelt. Für seine Abschlussarbeit 2011 – Titel: "Let's Talk About Garbage" ("Lass uns über Müll reden") – recherchierte er in der indischen Millionenstadt Dharavi. Sein Fazit: Müll ist dort elementarer Teil eines Kreislaufes und schafft Arbeitsplätze. Es sind Beispiele wie diese, um die es Aravena geht, wenn er fragt: Welchem Zweck dient das Bauen, welche Probleme lösen Architekten in diesen Tagen?

Nachahmen erwünscht

88 Projekte von Architekten, Büros und Institutionen stellt er auf der Biennale vor, verstreut über den Giardini-Pavillon und die Arsenale. Abgucken und Nachahmen ist ausdrücklich erwünscht. Aravena, der chilenische Pritzker-Preisträger, steht für soziales, nachhaltiges Bauen. Auch in seinem eigenen Biennale-Beitrag geht es um Recycling mit ästhetischem Anspruch. Im ersten Raum der Arsenale, wo in den letzten Jahren die Sponsoren ihren Auftritt hatten, sind jetzt 10.000 Quadratmeter Gipskarton zu einer zweiten Wand gestapelt. Von der Decke hängen insgesamt 14 Kilometer gebogene Aluminiumprofile. Ein Statement für Nachhaltigkeit: sämtliche verbaute Materialien hat das von Aravena geleitete Team "Elemental" von der Ausstellungsarchitektur der Kunstbiennale 2015 übernommen – praktischerweise war alles schon da.

Alluminiumprofile hängen von der Decke bei dieser Recycling-Installation von Alejandro Aravena (Foto: Stefan Dege, DW)
Recycling-Installation von Alejandro AravenaBild: Getty Images/AFP/V. Pinto

Sonnenbrille auf, Sonnenbrille ab: Die Augen reibt sich, wer den Schweizer Pavillon betritt. Darin dehnt und streckt sich ein seltsames, amorphes Gebilde bis unter die Decke. Die selbsttragende Hülle aus eidgenössischem High-Tech-Kunststoff ist innen hohl. Wer mag, kann hineinschlüpfen wie in einen Mutterleib. "Incidental Space" ("Rätselhafter Raum"), so die Auskunft der Kuratorin Sandra Oehy, ist funktionslose Architektur. Es geht um Raumerlebnis, ein radikales, wenngleich sinnliches Statement fernab des Aravena-Anspruchs.

Ein Hologramm erlaubt Ausblicke in Detroits Zukunft (Foto: Stefan Dege, DW)
Detroits Zukunft im HologrammBild: DW/S. Dege

Biennale der Gegensätze

Krasser könnte der Gegensatz kaum sein – Deutschland, Finnland und Österreich haben das Aravena-Motto ähnlich interpretiert. Ihre teils verkopft wirkenden Präsentationen kreisen um das Bauen für Flüchtlinge. "Making Heimat. Germany, Arrival Country" heißt es im deutschen Pavillon, dessen Wände – mit Erlaubnis der venezianischen Denkmalschützer – mehrfach aufgebrochen wurde und die nunmehr mit Thesen und Fotos zum Thema Einwanderung beklebt sind. Österreich führt dagegen "Orte für Menschen" vor, Flüchtlingsbauten aus der Hauptstadt Wien. Wie in vielen anderen Pavillons dürfen Besucher große, glänzende Fotoplakate einrollen und mit nach Hause nehmen. Auch bei den Finnen geht es um Flüchtlingsbauten, auch hier um eine politische Botschaft.

Ein begehbares, amorphes Kunstgebilde füllt den Schweizer Pavillon (Foto: Getty Images/AFP/V. Pinto)
"Incidental Space", die Rauminstallation im Schweizer PavillonBild: Getty Images/AFP/V. Pinto

Zukunft lässt sich nur auf Vergangenheit bauen. Wichtige Konstante ist die Kultur. Diese Botschaft dringt aus zwei, gleichwohl ganz verschiedenen Länderpavillons – dem russischen und dem US-amerikanischen. Mit einem wandfüllenden, von hinten beleuchteten Revolutionspanorama locken die Russen ihre Besucher auf einen Parcours durch die jüngere Baugeschichte Russlands. Aufwärts geht der Spaziergang vom Tiefparterre ins Obergeschoss, beginnend bei einer Dokumentation der großen Stalin'schen Agrarausstellung von 1938 in Moskau, vorbei an Artefakten sowjetischer und russischer Architektur. Nicht erst ein 360-Grad-Panoramafilm verwirrt hier die Sinne. "Russland ist sich seiner Geschichte bewusst", versichert Kurator Sergey Kuznetzov, "erst recht seiner Kultur!"

Multimedia allgegenwärtig

Das könnte die andere Supermacht – jenseits des Kiesweges und ein paar blühende Bäume weiter – gewiss unterschreiben. Doch "The Architectural Imagination", wie die US-Amerikaner ihr Pavillon-Programm betitelt haben, ist eher auf die Zukunft gerichtet. Am Beispiel der gebeutelten Autostadt Detroit lotet das Kuratorenteam aus, wie sich der industrielle Wandel architektonisch bewältigen lässt: Da entstehen spacige Büro- und kommunikative Wohnviertel. Ganze Stadteile blühen wieder auf dank modernster und auf Nachhaltigkeit setzender Planungen, zwölf Projekte insgesamt. Und in Sachen Multimedialität braucht man sich vor den Russen nicht zu verstecken. Dafür sorgen Hologramme, die man durch kleine Guckkästen betrachen kann.

Bakterien leuchten im Reagenzglas - Israel verbindet in seinem Pavillon Wissenschaft und Architektur (Foto: Stefan Dege, DW)
Bauen beginnt im Reagenzglas - der israelische PavillonBild: DW/S. Dege

"Reporting from the front" – keineswegs kriegerisch hat man in Israel das Biennale-Motte verstanden. Für die Baumeister des jüdischen Staates verläuft die besagte Front eher zwischen Reagenzglas und Zielstein, zwischen Wissenschaft und Architektur. Was lässt sich aus den Bauplänen von Bakterien für die Produktion von Baumaterialien lernen? Welche Energiespartechniken kann man der Natur abschauen? Wann setzt der Niedergang einer überbevölkerten Siedlungstruktur ein? Anschauliche Antworten auf solche Fragen finden sich im israelischen Pavillon, einem der konzentriertesten und ernsthaftesten der Architekturbiennale.

Ein Kind baut seine Stadt

Während Brasiliens Kuratoren auf eine Mischung aus Informationstexten, Plakaten, Filmen und Bildschirmprojektionen zu Bauprojekten in den Favelas von Rio de Janeiro setzen, hat sich hier ein Besucherkind ungefragt einer Handvoll hölzerner Bauklötze bemächtigt – und baute seine ganz eigene Stadt. Nicht weniger visionär wirkt das Plädoyer im Kuwaitischen Pavillon für einen Zusammenschluss aller Inseln am Golf zu einem "United Gulf", dargestellt anhand kuhfladenartiger Lehmmodelle auf glänzendem Marmorboden. Spanien singt das Hohelied einer Recycling-Architektur. Das Kriegsland Yemen, erstmals auf einer Biennale dabei, wirbt um Sympathien und Touristen. Thailand beschäftigt sich mit dem Wiederaufbau nach früheren Erdbeben.

Rapper am Niederländischen Biennale-Pavillon (Foto. Stefan Dege, DW)
Rapper am niederländischen Biennale-PavillonBild: DW/S. Dege

Und die Niederlande? Sie setzen ihre Aufbaubemühungen am Rande von UN-Friedenseinsätzen in Mali ins Bild. Zur Pavillon-Eröffnung flogen sie einen angesagten Rapper aus Afrika ein – und sorgten so schon mal für die eindrucksvollste Geräuschkulisse dieser Architekturbiennale. Es wird nicht der letzte Kontrast zum Vogelgezwitscher am Lido bleiben.