Bestseller über NS-Täter wird Bühnenstück
25. September 2011Der Vorhang geht auf, die Zuschauer blicken in einen riesigen Spiegel. Sie schauen auf sich selber. Ebenfalls im Zuschauerraum des Berliner Max Gorkim Theaters sitzt der gealterte Max Aue, die Hauptfigur aus Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten". Von der Empore sieht er sich und sein Leben im blutverschmierten Spiegel. Viele Diskussionen hatte es um "Die Wohlgesinnten" gegeben, denn der intellektuelle SS-Offizier Aue foltert und mordet ohne schlechtes Gewissen. An diesem Wochenende wird das Bühnenstück, das Regisseur Armin Petras als die schwerste Produktion seines Lebens bezeichnet, in Berlin uraufgeführt. Schon bei den Proben zeigte sich, dass die Bühnenfassung des vielfach diskutierten Romans für Regisseur und Schauspieler eine echte Herausforderung ist.
Denn Schriftsteller Jonathan Littell hat in seinem Roman "Die Wohlgesinnten" eine Figur geschaffen, die scheinbar so gar nicht in das lange geltende historische Bild und Klischee des Nazi-Schergen passt. Als Littells Buch im Spätsommer 2006 in Frankreich erschien, sorgte es vor allem deshalb für großes Aufsehen, weil die Hauptfigur Max Aue vielschichtig dargestellt wurde: Ein homosexueller, studierter, belesener, philosophierender und kunstsinniger Nazi und gerade kein schlichter, widerwärtiger Charakter. Gleichzeitig aber hatte er diese andere, die unglaublich brutale Seite, die ihn zum Gewalttäter und Mörder werden ließ.
Alle Orte, Ereignisse und zahlreiche Personen in Littells Roman sind historisch belegt, nur die Hauptfigur des Dr. Max Aue ist fiktiv. Das Buch wurde äußerst kontrovers diskutiert. Irritierend fanden viele, dass die Hauptfigur gerade nicht ohne weiteres den bekannten Stereotypen zugeordnet werden konnte.
Verstörende Fiktion
Für die Geschichtswissenschaft ist dieser erfundene und synthetische Täter geradezu verstörend. "Littells Figur repräsentiert einerseits den weitgehend unbekannten, intellektuellen NS-Funktionär, andererseits schickt der Autor auch eine moderne Figur durch einen historischen Kontext", erklärt der Historiker Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt Universität: "Max Aue ist schwul und als Intellektueller redet er wie selbstverständlich über sich und seine Sexualität. Er ist ein Mann, der nicht morden muss, es aber trotzdem tut. Das Töten verschafft ihm einen ganz ähnlichen Genuss wie seine Sexualität", lautet Baberowskis Interpretation der Romanfigur. Anders als die Schriftsteller könnten die auf Fakten und Dokumente angewiesenen Historiker nur selten solche Psychogramme zeitgeschichtlicher Personen ausarbeiten. Freie Interpretationen ersetzten eben nicht die Quellenarbeit.
Das reale Vorbild
Die literarische Darstellung des Max Aue hat gleichwohl ein reales Vorbild, erklärt der Geschichtsprofessor Michael Wildt von der Humboldt-Uni: "Otto Ohlendorf entspricht diesem Typus. Ohlendorf hat Volkswirtschaft studiert und danach auch wissenschaftlich gearbeitet. Er hat sich gegen die wissenschaftliche Karriere entschieden und ist in der nationalsozialistischen Hierarchie bis zum Leiter des Sicherheitsdienstes Inland aufgestiegen. Kalt und regungslos berichtete er als Zeuge in den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen, dass er verantwortlich sei für 90.000 Morde an der Bevölkerung in Osteuropa."
Wildt erkennt in der Romanfigur Max Aue ein Abbild von Otto Ohlendorf, der vom amerikanischen Chefankläger damals als ein gutaussehender junger Mann beschrieben wurde. Seine Intelligenz und die Genauigkeit seiner Schilderungen habe unter den Prozessbeobachtern 1948 für Entsetzen und betroffenes Schweigen gesorgt, sagt Historiker Wildt.
"Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell wurde in Frankreich über 800.000 Mal verkauft. Der Roman über den SS-Sturmbannführer Dr. Max Aue ist dort ein absoluter Bestseller, während das Buch in Deutschland bisher nur einen Bruchteil der französischen Auflage erreichen konnte. Von der deutschen Literaturkritik, aber auch von Historikern, wurde das Buch mitunter heftig abgelehnt. Vielleicht, weil man sich mit der These vom NS-Täter aus der Mitte der Gesellschaft immer noch schwer tut?
NS-Täter im Theater
Das Theaterstück am Berliner Maxim Gorki Theater dürfte die Debatte wohl neu beleben - und auch die Diskussion darüber, ob und wie man die Geschehnisse der Nazizeit heute angemessen darstellen kann. Das Theater soll nun dazu beitragen, ein noch nicht zu Ende erforschtes historisches Kapitel auf künstlerische Weise auszuleuchten. "Das ist ein großer Vorteil dieses Buches - und damit auch des Bühnenstücks. Es leistet etwas, was keine Täterforschung hinkriegt", meint Historiker Baberowski: "Die Wissenschaft kann die Täter so nicht sprechen hören wie das in der Literatur geschieht. Man lernt viel darüber, wie sich Menschen verhalten, die andere Menschen umbringen."
Autor: Wolfram Stahl
Redaktion: Sabine Damaschke, Cornelia Rabitz