1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Interview Henning Riecke

7. Oktober 2011

"Eine Lehre aus der Afghanistan-Intervention ist, dass man sich selber auch belügen kann", sagt Henning Riecke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Der NATO stellt er trotzdem ein gutes Zeugnis aus.

https://p.dw.com/p/12m8O
Henning Riecke, Leiter des Programmbereichs USA/Transatlantische Studien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Foto: DW)
Henning RieckeBild: DW

DW-WORLD.DE: Herr Riecke was hat die Intervention in Afghanistan für die Terrorabwehr gebracht?

Henning Riecke: Die terroristische Infrastruktur ist in andere Länder abgedrängt worden. Es ist gelungen, im Rahmen der Auseinandersetzung in Afghanistan, aber auch in Pakistan, weite Teile der Führungsebene von Al Kaida zu töten. Das hat die Dynamik innerhalb dieses Netzwerkes in Bewegung gebracht. Es ist jetzt wahrscheinlicher, dass lokale Gruppen versuchen, islamistische Ziele durchzusetzen - zum Beispiel auf der arabischen Halbinsel oder in Afrika. Es geht heute nicht mehr so sehr um die global orientierte, anti-westlich ausgerichtete Bewegung, die Al Kaida vor zehn Jahren noch war.

Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Interventionen. Halten Sie es für machbar, ein kulturell und religiös sehr anders geprägtes Land mit militärischen Mitteln in Richtung Demokratie zu führen?

Ich glaube, dass das ein sehr, sehr langfristiger Prozess ist. Dafür muss viel passieren: eine Öffnung nach Außen, einen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit der globalisierten Welt und langsam wachsende, politische Strukturen der Partizipation. Aber die Voraussetzung für den Beginn eines solchen Prozesses ist, dass der Bürgerkrieg beendet und die Sicherheit für die Menschen im ganzen Land gewährleistet ist. Und das funktioniert meines Erachtens nur mit militärischen Mitteln.

NATO-Soldat im Panzer, davor afghanische Soldaten mit Kampfhelmen (Foto: DW)
Sind militärische Mittel für den Aufbau eines Staates unverzichtbar?Bild: DW

Das Problem war, dass zu Beginn der Afghanistan-Intervention zunächst ein Regimewechsel notwendig war. Dieser komplette Neuanfang ist eine Sache, die ich nicht noch einmal empfehlen würde. Und ich glaube, das ist auch ins Bewusstsein der westlichen Sicherheitspolitik eingedrungen.

Die Art und Weise, wie gerade Deutschland im Fall Libyens gegen ein militärisches Vorgehen war, zeigt, dass die Politiker vorsichtiger geworden sind. Denn mit einem militärischen Eingreifen verbindet sich Verantwortung für die nächsten Schritte, und die beinhalten am Ende auch die politische Verantwortung des Staatenaufbaus.

Das deutsche Nein zum militärischen Einsatz in Libyen ist eine direkte Lehre aus der Afghanistan-Intervention?

Ich glaube schon, dass es eine Lehre aus Afghanistan ist, dass man sich selber auch belügen kann - so wie am Anfang viele gesagt haben, dass Afghanistan eine Demokratie nach westlichem Vorbild werden kann.

Zur Selbstlüge gehörte auch der Mythos der Bundesregierung, dass wir im Norden mit unseren Soldaten saubere Stabilisierungsarbeit leisten, während die Amerikaner im Süden und Osten des Landes den harten Kampf gegen die Terroristen führen, Türen eintreten und Bomben werfen. Es hat lange gedauert, bis die Bundesregierung diesen Mythos aufgegeben hat, der auch eine Desinformation der Öffentlichkeit war. Er hat die Menschen in Deutschland fehlgeleitet darüber, was in Afghanistan gemacht werden muss und was dort erreicht werden kann.

Heute gelten Gespräch mit den Taliban, mit den verschiedenen Gruppen der Aufständischen, als Gebot der Stunde ist. Halten Sie das für richtig?

Es ist eine Realität im Kriegsgeschehen und bei Verhandlungen in Konflikten, dass man mit dem Gegner verhandeln muss. So wie in jedem Konflikt und in jeder Kriegshandlung müssen auch die Taliban als Gegner in Verhandlungen einbezogen werden, um diesen Krieg zu beenden. Es ist unwahrscheinlich, dass man die Taliban alle töten und ihre Strukturen insgesamt zerschlagen kann, weil es zu viele Verbündete in Afghanistan selber gibt und weil sie auch von Pakistan aus operieren können.

Ich glaube, dass es einzelne Gruppierungen unter den Taliban gibt, die möglicherweise eher bereit sind, in solche Verhandlungen einzugehen als andere. Ich denke, dass es gerade durch den großen Druck auf die Taliban und ihre Führungsebene jüngere Kräfte gibt, die vielleicht noch radikaler sind als die ursprünglichen Führer, was die Verhandlungen noch schwerer machen wird. Ich glaube aber auch, dass es Spaltungen innerhalb der Taliban gibt, die man ausnutzen muss.

Ein kleines afghanisches Mädchen hält stolz sein Schulheft in die Kamera. (Foto: DW)
Sie leiden am meisten, wenn es keine politische Lösung gibt.Bild: DW

Ganz sicher ist, dass die Taliban selber, um das Gesicht nicht zu verlieren, einen Teil ihrer Ziele erreichen müssten. Sie müssten erreichen, dass sie selber in Afghanistan bleiben können, dass ihre Sicherheit gewährleistet ist und dass es eine Perspektive gibt auf den Abzug der westlichen Kräfte. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, in eine politische Rolle hineinzuwachsen. Mit welchen Partnern auf der Taliban-Seite man das erreichen kann und mit welchen Angeboten das erreicht werden muss - da ist noch sehr vieles offen.

Bei uns im Westen ist viel Wunschdenken mit im Spiel, als seien Verhandlungen das eine Wundermittel, dass man nur anwenden muss, um den Konflikt zu beenden. Ich glaube, dass wir noch viele Rückschläge erleben werden.

Porträt Barack Obama mit zusammen gekniffenen Lippen (Foto: AP/dapd)
US-Präsident Barack Obama will die US-Kampftruppen bis Ende 2014 nach Hause holen.Bild: dapd

War es falsch, 2014 als Abzugsdatum für die Kampftruppen so offen zu benennen?

Ich bin überzeugt, dass man mit dem Abzugsdatum ein bisschen vorsichtiger hätte sein müssen. Ich glaube, dass die Situation in Afghanistan den Abzug jetzt noch nicht rechtfertigt. Das Risiko, dass man ein Land im Bürgerkrieg zurücklässt, ist sehr groß. Ich glaube, dass man noch über lange Jahre die Verantwortung dafür hat, die von uns bewaffneten und ausgebildeten Streitkräfte an die afghanische Regierung zu binden, um ein Überlaufen zu verhindern. Das wird möglicherweise mit weniger Truppen passieren, aber dass von einem Abzug oder von einem völligen Abzug geredet wird, halte ich auch für Schönrednerei.

Worum geht es dem Bündnis heute Ihrer Meinung nach noch?

Es geht dem Bündnis auch darum, in Afghanistan stabile Verhältnisse herzustellen. Es geht darum, Rückzugsräume für Terroristen in Afghanistan und selbstverständlich in den Nachbarländern, vor allem in Pakistan, abzubauen und zu verschließen. Die Frage ist, was davon übernimmt das Bündnis und was übernehmen die Amerikaner? Ich glaube nicht, dass die NATO mit einer offensiven Politik der Drohnenangriffe in Pakistan eingreift, um sich zurückziehende Taliban-Milizen zu verfolgen. Das ist Sache der Amerikaner, nicht der NATO.

Der NATO geht es darum, dem Auslaufen der Operation in Afghanistan ein Gesicht zu geben, damit man sagen kann: "Wir haben eine Aufgabe erfüllt." Von Erfolg wird vielleicht auch in der NATO niemand großspurig reden wollen. Aber es geht zumindest darum klar zu machen, dass die Afghanistan-Operation den Großteil ihrer Aufgaben erfüllt hat und dass diese Operation Bedingungen geschaffen hat, die es zuvor in Afghanistan noch nie gegeben hat.

Was man nämlich nicht vergessen darf ist, dass diese Situation für Afghanistan selber historisch einmalig ist: Eine starke Organisation der mächtigsten Staaten der industrialisierten Welt bemüht sich dort um den Aufbau. Wenn es jetzt zu einem Abzug kommt, bei dem alle westlichen Staaten die ersten sein wollen und Afghanistan wieder in Bürgerkrieg zurückfällt, dann wird sich auf absehbare Zeit niemand mehr diese Mühe machen. Das ist das Signal, das auch die Afghanen verstehen müssen.

Was ist für Sie die zentrale Lehre aus dieser Intervention?

Eine Lehre ist, dass man in Konflikten aufpassen muss, wen man bewaffnet. Ich denke, dass man so einen Staatsaufbau wie den, den es in Afghanistan hoffentlich noch gibt, nicht mehr so schnell anfängt. Man wird eher versuchen, einen Krisenverlauf von außen nach den eigenen Interessen zu beeinflussen, ohne selber die volle Verantwortung zu übernehmen.

Das kann man bedauerlich finden angesichts der großen Hoffnung auf eine globale Innenpolitik. In den 1990er Jahren standen ja viele Politiker und Experten auf dem Standpunkt, dass man eine Polizeigewalt mit UN-Mandat braucht, um Konflikte überall in der Welt schnell beilegen zu können. Ich glaube, dass diese Hoffnungen zerstört sind. Man ist bescheidener geworden in den eigenen Annahmen, was man als mächtiger Staat oder mächtiges Bündnis überhaupt ausrichten kann in solchen Krisen.

Symbolbild: US-Soldaten in Afghanistan dekorieren einen Riesenkuchen mit der US-Flagge (Foto: AP)
USA und NATO sind keine Weltpolizisten, die Freiheit und Demokratie verschenken.Bild: AP

… zumal ja für die NATO auch noch nicht das Risiko gebannt ist, als gescheitertes, mächtigstes Militärbündnis der Welt aus diesem Konflikt herausgehen zu müssen.

Ich würde sagen, dass die NATO natürlich ein Interesse daran hat, in Afghanistan nicht als Verlierer dazustehen. Aber sie hat auch gute Gründe davon zu sprechen, dass sie dort ihre Aufgabe zum guten Teil erfüllt hat. Manchmal ist es ja so, dass man nur begrenzt Einwirkungsmöglichkeiten hat und einen Erfolg danach bemessen muss, was man eigentlich hätte erreichen können. So eine realistische Sicht auf das, was in Afghanistan möglich gewesen wäre, müsste man auch der NATO zugestehen.

Die NATO ist aber deutlich mehr als nur in Afghanistan aktiv. Sie ist ein sehr anpassungsfähiges Instrument, das die Staaten der westlichen Gemeinschaft mit anderen Partnern in anderen Teilen der Welt zusammenbringt. Die NATO ist als Bündnis handlungsfähig.

Man kann immer sehr viel kritisieren, aber als Allianz und als Sicherheitsorganisation ist sie einzigartig, auch was ihre Leistungsfähigkeit angeht. Und sie ist auch an vielen anderen Stellen beschäftigt - auf dem Balkan, in Nordafrika, und sie hat noch weitere Aufgaben vor sich. Es ist falsch zu sagen, dass die NATO mit Afghanistan steht und fällt.

Henning Riecke leitet den Programmbereich USA/Transatlantische Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.

Das Interview führte Sandra Petersmann
Redaktion: Martin Muno