Beherrscht das Geld die Demokratie?
15. Januar 2013"Niemand ist mehr Sklave als derjenige, der sich für frei hält, ohne frei zu sein." Dieses Zitat von Johann Wolfgang von Goethe bringt provokant auf den Punkt, wie Kritiker das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Demokratie in Europa derzeit sehen. Leben wir nur formal in einer Demokratie mit freien Wahlen, während in Wahrheit die Finanzakteure die Richtung der Politik bestimmen? Lassen sich Kapitalismus und Demokratie überhaupt miteinander vereinbaren?
Der Frankfurter Philosophie-Professor Axel Honneth sieht bei breiten Teilen der Bevölkerung berechtigte Zweifel, ob der politische Wille des Volkes überhaupt einen Einfluss auf die Entscheidungen der Politik hat. "Es herrscht doch das Gefühl, dass die politischen Akteure, die Regierung, das Parlament, selbst nur in so engen Spielräumen agieren können, dass es ganz egal ist, welchen Willen man formt." Die politischen Ziele könnten meist gar nicht umgesetzt werden, weil die Regierungen schnell an die "durch das Finanzkapital gesetzten Grenzen" stießen, so Axel Honneth im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Die Demokratie "marktkonform" machen?
Das Regierungssystem wird von immer weniger Menschen als ein Instrument wahrgenommen, das den Willen der Bürger in praktische Politik umsetzt. Stattdessen hört man in der europäischen Finanzkrise oft die Devise: Demokratie müsse "marktkonform" sein. Solche Spannungen zwischen der freien Marktwirtschaft und der Demokratie hat es in der Geschichte immer gegeben, sie sind Teil der modernen Gesellschaft. Doch momentan neige sich die Waage immer stärker in Richtung Kapitalismus, während demokratische Institutionen Teile ihrer Macht einbüßen mussten, so der Tenor der vom deutschen Goethe-Institut mitorganisierten Veranstaltung. Für Axel Honneth sollte es eigentlich genau andersherum sein. Der Markt müsse "demokratiekonform" sein und nicht umgekehrt.
Als Beispiel einer aus seiner Sicht bedenklichen Entwicklung nennt der deutsche Schriftsteller und Bürgerrechtler Ingo Schulze die von der Europäischen Union geplante Privatisierung der Wasserversorgung. Er hat gegen die Privatisierung der lebensnotwendigen Ressource in Berlin rund eine Millionen Unterschriften gesammelt: "Man kann sich durchaus dieser demokratischen Strukturen und der Rechtsstaatlichkeit bedienen. Wir tun das, glaube ich, viel zu wenig. Es lässt sich viel mehr machen, als wir glauben", so der Bürgerrechtler.
Ein anderer Weg in China
Lu Xiang-Hua, Professor für Philosophie an der Tongji-Universität in Shanghai und über einen großen Videoscreen aus China zugeschaltet, kann die Fragen der Europäer durchaus nachvollziehen. Er glaubt an eine gemeinsame, globale Definition von Demokratie. Neben den grundlegenden Menschen- und Bürgerrechten baue Demokratie auf unterschiedlichen Mechanismen und Institutionen auf, um den Willen des Volkes in politische Entscheidungen umzusetzen. Während die Grundlagen weltweit gelten, sind für den chinesischen Philosophie-Professor bei den Instrumenten jedoch durchaus unterschiedliche Formen denkbar. Die aktuellen Fragestellungen sind für Lu Xiang-Hua in China dann auch ganz andere als in Europa. Dort fragen sich die Bürger, wie sie angesichts des steigenden Wohlstands auch mehr politischen Einfluss gewinnen können. Dabei sieht Lu Xiang-Hua die Zukunft in einer stärkeren Öffnung der Kommunistischen Partei von innen - weniger im Kampf gegen die Partei von außen.
Am Ende bleiben mehr Fragen als Antworten. Wie kann die Politik wieder mehr Gestaltungsmacht über die Wirtschaft zurückgewinnen? Darauf hatte auch keiner der Diskussionsteilnehmer eine abschließende Antwort. Aber die Diskussion darüber wird weiter gehen - auch mit chinesischen Intellektuellen. Und vielleicht liegt genau darin der größte Erfolg der Veranstaltung: Chinesische und europäische Intellektuelle an einen - wenn auch virtuellen - Tisch zusammen gebracht zu haben.