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Befreiung von der Hydra

23. April 2003

Nach sechs Wochen hat die serbische Führung in Belgrad den Ausnahme-Zustand, den sie nach der Ermordung von Ministerpräsident Zoran Djindjic ausgerufen hatte, aufgehoben. Klaus Dahmann zieht Bilanz.

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Polizei-Sirenen, Massen-Verhaftungen, überquellende Gefängnisse - Ausnahme-Zustand, sechs Wochen lang. Ein Szenario, bei dem man unwillkürlich an Diktaturen denkt, an Staatsterror, an Stalinismus. Doch die serbische Regierung hat in den vergangenen Wochen vorgemacht, dass das Wort Ausnahme-Zustand auch Befreiung bedeuten kann - Befreiung von jener Hydra, die auch zweieinhalb Jahre nach dem Fall ihres Kopfes Slobodan Milosevic das Land noch immer fest im Griff hielt.

Dass die Mafia in Serbien weitreichenden Einfluss hatte, war ein offenes Geheimnis. Darauf hatte auch der Reformer Zoran Djindjic immer wieder hingewiesen. Als er dann der organisierten Kriminalität den Kampf ansagte, wurde er von einem Mörder-Kommando erschossen. Sein Amtsnachfolger Zoran Zivkovic zögerte nicht lange: Er rief den Ausnahme-Zustand aus - und brachte zu Tage, dass die Arme der Hydra in nahezu alle staatlichen und nicht-staatlichen Strukturen reichten: in Polizei, Armee, Justiz, Ministerien, Industrie und Finanzwelt - ja selbst in Medien und Showbusiness. Geheime Waffen-Arsenale wurden entdeckt, Tausende mutmaßliche Kriminelle festgenommen, so viele, dass die serbische Regierung sogar das Ausland um Finanz-Hilfe bat, damit sie neue Gefängnisse bauen könne. Auch Djindjics Mörder wurden gefasst. Und selbst wenn der mutmaßliche Drahtzieher Milorad Lukovic alias Legija noch flüchtig ist - der Überraschungs-Coup gegen das organisierte Verbrechen ist gelungen.

Verwundert es da, dass ein Aufschrei der Bevölkerung ausblieb, ja gar die meisten erleichtert reagierten? Einer Umfrage zufolge waren sogar drei Viertel aller Serben für die Verhängung des Ausnahme-Zustands. Und das liegt wohl nicht allein an dem Schock und der Trauer, die Djindjics Ermordung ausgelöst hat. Denn eins sollte man nicht vergessen: Die Sympathie-Kurve des Ministerpräsidenten hatte sich in den Monaten zuvor eher auf niedrigem Niveau bewegt. Er war ein geschickter Taktierer, dem es mit viel List gelang, seinen Widersacher im Kampf um die Macht, den einstigen jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica, auszubooten; ein Reformer ja, aber einer, der viel versprach und nur wenig erreichte - so zum Beispiel Millionen und Milliarden ausländischen Kapitals ins Land zu holen. Djindjic hat die Richtung namens Demokratisierung vorgegeben - aber er wurde zu Lebzeiten von vielen Serben noch skeptisch beäugt.

Um so mehr Respekt und Anerkennung verdienen der neue Ministerpräsident Zoran Zivkovic und sein Kabinett. Vor allem deshalb, weil sie nicht den Fehler begingen, nur nach Djindjics Mördern und ihren unmittelbaren Hintermännern zu fahnden. Vielmehr sind sie - wie es der Ermordete vorgehabt hatte - der gesamten Unterwelt zu Leibe gerückt.

Es gibt aber auch einige dunkle Punkte: So hat die Demokratische Partei von Ministerpräsident Zivkovic in diesen sechs Wochen mehr hohe Posten im Staat besetzt, als es ihrem eigentlichen politischen Gewicht entspricht. Jetzt, da der Ausnahme-Zustand aufgehoben ist, bergen solche Fragen Zündstoff für die zuletzt kaum noch einige Regierungs-Koalition, die ohnehin nur eine dünne Mehrheit im Parlament besitzt. Zivkovic wird seine Koalitionäre zwar eine Zeitlang ruhig stellen können - mit der puren Androhung von Neuwahlen, bei denen seine Partei derzeit mit großem Stimmenzuwachs rechnen könnte. Doch wie dauerhaft ist diese gegenwärtige Popularität?

Kein Zweifel: Zivkovics junge Regierung hat in kurzer Zeit viel erreicht. Allerdings: mehr als ein erster - wenn auch schwerer - Schlag gegen Verbrechen und Korruption war es sicher nicht. Nun muss die Regierung beweisen, dass sie der eingeschlagenen Linie treu bleibt. Die Voraussetzungen dafür sind da - im Inland und im Ausland: Die europäischen Institutionen sind aufgewacht aus ihrem Dämmerzustand, in den sie das lange Hin und Her um die Verfassung des Staatenbundes Serbien und Montenegro und das Gezerre um die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher nach Den Haag versetzt hat. Und was noch viel wichtiger ist: Das Vertrauen vieler Serben in ihren Staat und ihre Regierung ist wiedergekehrt. Diese Chance gilt es zu nutzen.