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Bedeutung des "Judas-Evangeliums" ist umstritten

Martin Schrader10. April 2006

Ein über Jahrhunderte verschollenes Judas-Evangelium sorgt unter Wissenschaftlern und gläubigen Christen für Aufsehen. Einige meinen bereits, das schlechte Bild von Judas sei nicht mehr haltbar, er sei ein Held gewesen.

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Ausschnitt aus dem restaurierten Judas-EvangeliumBild: NATIONAL GEOGRAPHIC

Er galt als Lügner und Verräter schlechthin. Begriffe wie "Judas-Lohn" und "Judas-Kuss" sind sprichwörtlich geworden. Doch dieses Bild möchte ein antiker Text, der von der National Geographic Society in die öffentliche Diskussion gebracht wurde, ins Gegenteil verkehren.

NATIONAL GEOGRAPHIC Judas-Evangelium
Der Theologie-Professor Gregor Wurst und die Konservatorin Florence Darbre haben im Auftrag der National Geographic Society das Manuskript analysiertBild: NATIONAL GEOGRAPHIC

Den Texten des Neuen Testaments zufolge starb Jesus am Kreuz, nachdem der Apostel Judas ihn im Garten Gethsemane für 30 Silberlinge an die römische Besatzungsmacht verraten hatte. In dem jetzt restaurierten Judas-Evangelium ist Judas dagegen der Einzige, der die Botschaft Jesu versteht. Er wird von Jesus in alle Geheimnisse eingeweiht und von ihm beauftragt, seinem Meister durch den Verrat einen letzten Dienst zu erweisen. In der wichtigsten Passage des Manuskripts sagt Jesus zu Judas: "... du wirst sie alle übertreffen. Denn du wirst den Menschen opfern, der mich kleidet." Die mit der Übersetzung beauftragten Religionswissenschaftler interpretieren diese Aussage so, dass Judas Jesus zwar den Tod brachte, ihm damit aber einen letzten Gefallen erwies. Denn mit seiner Hilfe konnte die leibliche Hülle Jesu, die als Werk dummer Gottheiten galt, ans Kreuz geschlagen werden. Durch diese Auslegung erscheint der größte Schurke der Bibel in völlig neuem Licht.

Wirtschaftliche Verwertung

Das Manuskript wurde vor etwa 30 Jahren in Ägypten entdeckt. Vor seiner Restaurierung war es über verschlungene Wege nach Europa und in die USA gelangt. Die Zürcher Antiquitätenhändlerin Frieda Nussberger-Tchacos kaufte es im Jahr 2000 für etwa 300.000 Dollar. Es hatte stark gelitten und war so brüchig, dass es bei der geringsten Berührung in tausend Teile zerbröselte. Die Händlerin übergab sie der Schweizer Maecenas-Stiftung für antike Kunst. Diese ließ das Manuskript in fünfjähriger penibler Kleinarbeit restaurieren und übersetzen. Die Entstehung des 13-seitigen, beidseitig beschriebenen Manuskripts wurde nach naturwissenschaftlichen Analysen auf das 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus datiert.

Cover NATIONAL GEOGRAPHIC Judas-Evangelium
Mai-Titelblatt von "National Geographic"

Die National Geographic Society und das Waitt Institute for Historical Discovery finanzierten diese Arbeiten. "National Geographic" erhielt das Recht, das vollständige Evangelium zu veröffentlichen. Die Zeitschrift "National Geographic" wird ihm in ihrer Mai-Ausgabe breiten Raum widmen.

Wissenschaftler-Meinungen

Obwohl es nach Einschätzung namhafter Wissenschaftler an der Echtheit der Schrift keinen Zweifel gibt, scheiden sich die Geister über ihre Bedeutung. "Die Vermutung, dass Jesus den Auftrag zum Verrat gegeben hat, ist nicht neu", sagt der Religionswissenschaftler Folker Siegert von der Universität Münster im Gespräch mit DW-WORLD.

"Das ist ein sehr interessanter Quellenfund für die antike Religionsgeschichte", meint Thomas Söding. Er ist Professor für biblische Theologie in Wuppertal sowie Mitglied der päpstlichen Theologen-Kommission und hat Abbildungen des Manuskripts bereits in Augenschein genommen. Söding sagt freilich auch: "Man muss aber gleichzeitig dazu sagen, dass es uns überhaupt nichts sagt über die tatsächliche Passionsgeschichte, also weder über das historische Jesus-Bild noch über das historische Judasbild erfahren wir irgendwelche neuen Informationen." (Ein Interview mit Prof. Söding im Anhang).

Offene Fragen

Der Schwachpunkt des Manuskripts ist nach Meinung beider Wissenschaftler die Fundgeschichte. Es sei nicht klar, woher das Dokument eigentlich ursprünglich stamme. Sollte das Dokument tatsächlich im 3. oder 4. Jahrhundert entstanden sein, wäre es nahe liegend, dass es sich um eine koptische Übersetzung des ursprünglich vermutlich in Griechisch verfassten "Judas-Evangeliums" handle. Dessen Urheber ist ebenfalls unbekannt. Erwähnt wird es erstmals vom Lyoner Bischof Irenäus um 180 nach Christus. "Das Besondere wäre", sagt Söding, "dass jetzt der Text erstmals vorläge."

Ägyptische Christen entwickelten die koptische Sprache, eine Mischung aus Griechisch und Ägyptisch, um die biblischen Texte übersetzen zu können. Die Übersetzungen gelten zwar einerseits als sehr genau, andererseits führt die Einfachheit dieser Sprache mitunter zu Missverständnissen.

Einhellig ist die Meinung der Fachleute, dass unabhängig vom Wahrheitsgehalt des neuen Evangeliums dessen Interpretation neue Erkenntnisse über christliches Denken in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts geben wird. Die Leidensgeschichte Jesu muss aber wenige Tage vor Ostern wohl nicht umgeschrieben werden.