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Politik

Barrieren im Kopf

Maria Christoph
21. Juni 2017

Eine Behinderung als Ausschlusskriterium bei der Jobsuche? Das ist Realität in vielen Ländern Europas. Cédric Hocepied kämpft um Anerkennung - mit mäßigem Erfolg. Maria Christoph traf ihn in Brüssel.

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Inklusion in der Arbeitswelt
Cédric Hocepied ist 26, hochqualifiziert und taub - das erschwert ihm die JobsucheBild: DiversiCom/Rosalie Colfs

Wenn Cédric Hocepied von seiner Schulzeit erzählt, verdunkeln sich seine Augen. Er spricht dann in Episoden, die sich immer wieder abspielten: "Die Lehrer haben mir und meinen Eltern gesagt, dass ich es nie schaffen werde. Ich passte nicht ins System".

Cédric ist 26 Jahre alt und von Geburt an taub. Mit "es" meint er einen Schulabschluss, ein Studium, eine Karriere. Heute hält er einen Master in Internationalem Recht an der New York City University und an der Université Catholique de Louvain in Brüssel. Ist Fulbright-Stipendiat, war Praktikant bei den Vereinten Nationen und der NATO. Spricht fließend Englisch und Französisch. Und stößt dennoch auf Ablehnung, sucht er einen Job in seinem Fachgebiet.

Chancengleichheit ist das Ideal unserer sozialen Marktwirtschaft - doch geht es um den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt für Behinderte, klaffen Ideal und Realität noch weit auseinander. Woran liegt das?

"Wir müssen Vorurteile überwinden"

Menschen mit Behinderung leben häufiger in Armut

In der Europäischen Union hat nur jeder zweite arbeitsfähige Mensch mit Behinderung einen Job. Im Vergleich dazu arbeiten derzeit 70 Prozent der Nicht-Behinderten. Die Gesetzgebung ist von Land zu Land sehr unterschiedlich, was es für internationale Unternehmen kompliziert macht: 

In Deutschland sind Unternehmen ab 20 Mitarbeitern verpflichtet, fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderung zu besetzen. Tun sie das nicht, müssen sie Strafen zahlen - viele Arbeitgeber nehmen das in Kauf. 

In Belgien existieren verschiedene Vorgaben für Brüssel, Flandern und den wallonischen Teil des Landes. In Ungarn gibt es keine gesetzliche Vorgabe. Die Beschäftigungsquote ist dort laut "Eurostat" mit knapp 24 Prozent am geringsten, die Integration in den Arbeitsmarkt gilt dort als am schwersten innerhalb der EU.

Jugendliche mit Behinderung verlassen deutlich früher die Schule als Nicht-Behinderte. Viele von ihnen leben später am Rande der Gesellschaft, für sie gehört Armut und soziale Ausgrenzung zum Alltag. Doch auch Hochqualifizierte suchen oft jahrelang nach einem passenden Job - so wie Cédric.

Inklusion in der Arbeitswelt
EU-Sprecher Christian Wigand: "Unterschiede in Nationalstaaten müssen abgebaut werden"Bild: EU/Etienne Ansotte

Mitgliedsstaaten auf unterschiedlichem Niveau

"Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist noch immer eine der größten Hürden für Menschen mit Behinderung", bestätigt Christian Wigand, 38, EU-Kommissionsprecher im Bereich Beschäftigung und Soziales. Die aktuellen Zahlen hält er für alarmierend - oder eher "aussagekräftig", so sagt er. Langfristig müsse es Aufgabe der EU sein, die Rahmenbedingungen zu verbessern, zu vereinfachen und zu vereinheitlichen.

Die Kommission hat 2015 einen Gesetzesvorschlag eingebracht, der Produkte, Dienstleistungen und das Internet für Menschen mit Behinderung zugänglicher gestalten und so auch den Arbeitsmarkt für behinderte Menschen weiter öffnen soll – etwas, das in den USA seit 2010 Realität ist. In der EU muss der sogenannte "Accessibility Act" noch bürokratische Hürden überwinden. Er ist Teil der "European Disability Strategy (2010-2020)", die erste Erfolge durch ein neues Gesetz zur Barrierefreiheit von Internet und Apps gezeigt habe, sagt Wigand. 

Ein soziales Start-up öffnet Türen

Gesetze und Sanktionen reichen nicht aus, sagt Marie-Laure Jonet, 41, "was wir brauchen, ist der menschliche Willen". Vor drei Jahren gründete sie das soziale Start-up "DiversiCom", unterstützt Menschen wie Cédric und berät verunsicherte Arbeitgeber. Denn genau dort, liege das eigentliche Problem: "Unternehmen fürchten, ihre öffentliche Reputation zu verlieren, wenn die Zusammenarbeit scheitert", sagt Jonet. Ihnen fehle das Wissen über fachliche und finanzielle Unterstützung und der Mut.

Inklusion in der Arbeitswelt
Marie-Laure Jonet hat vor drei Jahren das Start-up "DiversiCom" gegründet und vermittelt zwischen Partnern und UnternehmenBild: DW/M. Christoph

Das vierköpfige Team konnte 170 Personen an Arbeitgeber vermitteln und hat 50 belgische und internationale Partner, darunter Großkonzerne wie L'Oréal, Solvay und Accenture. "DiversiCom" öffnet Türen, füllt eine Lücke, die Staat und EU hinterlassen.

Unternehmen haben heute nicht mehr nur die Missionen Geschäfte zu machen, sie müssen soziale Verantwortung übernehmen, nachhaltiger denken - auch was das Personal betrifft, findet die Gründerin. "Wir sollten in diesem Bereich bereits auf einem anderen Level sein und nicht weiterhin gegen Diskriminierung ankämpfen müssen", sagt Jonet.

Unternehmen müssen soziale Verantwortung übernehmen 

Cédrics Behinderung ist nicht sichtbar. Begegnet man ihm zum ersten Mal, fällt auch der kleiner Draht nicht auf, der von seinem rechten Ohr eng am Kopf entlangführt. Das sogenannte Cochlea-Implantat, eine Hörprothese, die wie ein Mikrofon seine Gehörleistung verstärkt.

Im Gespräch löst Cédric den Blick nicht von den Lippen seines Gegenübers. Er liest jede Silbe von ihnen ab. Konzentriert sich auf jedes Wort, das sein Gegenüber sagt.

Der 26-Jährige kann keine Telefonate führen, es fällt ihm schwer, Meetings zu folgen. Es sind aber vor allem Gespräche zwischen Kollegen im Gang oder am Rande einer Veranstaltung, die Cédric nicht mitbekommt. "Das schreckt Unternehmen ab", sagt er. Dabei habe er durch seine Behinderung gelernt, existierende Fähigkeiten zu perfektionieren, "ich kann Probleme zum Teil schneller analysieren als Hörende", sagt er.

Inklusion in der Arbeitswelt
Seit April hat Cédric einen Job auf Probezeit bei "Handicap International"Bild: Handicap International/Blandine Bouniol

Inklusion basiert auf Engagement

Durch "DiversiCom" ist Cédric vor wenigen Wochen auf ein Angebot gestoßen, das zu seiner Qualifikation passt. Er hat nun einen speziellen Vertrag bei der Menschenrechtsorganisation "Handicap International", sein Gehalt wird zum Teil staatlich finanziert. Dieser Vertrag soll Menschen mit Behinderung die Chance geben, erste Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt zu sammeln und Arbeitgebern als Versicherung dienen.

Auch wenn dies eine gute Chance ist, fühlt sich Cédric nicht ganz wohl damit: "Durch diesen Vertrag bin ich eher Wegbereiter für die Organisation, Erfahrung habe ich bereits". 

"Handicap International" kämpft weltweit für die Rechte behinderter Menschen, dennoch ist Cédric der einzige Mitarbeiter mit Behinderung am Standort Brüssel. "Es war eine große Veränderung für uns - wir waren sehr aufgeregt, Cédric einzustellen", sagt HI Sprecherin Diana Vanderheyde.

Cédric arbeitet als Rechtsassistent. Sein Team hat Tische und Stühle im Kreis aufgestellt, damit er die Gesichter seiner Kollegen sehen kann, wenn sie sich miteinander unterhalten.

Cédric hat seinen Kritikern bewiesen, dass er "es" schafft. Aber bleibt doch Beispiel dafür, dass es noch ein weiter Weg bis zur Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ist, auch in der EU.