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Baltisch-russische Beziehungen immer noch belastet

19. Mai 2005

Die Beziehungen zwischen den baltischen Staaten und Moskau sind immer noch schwierig. Russland und Estland haben nun einen Grenzvertrag unterzeichnet. Doch neue Spannungen gibt es zwischen Lettland und Russland.

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Grenzstreitigkeiten beigelegt: Vertragsunterzeichnung in MoskauBild: AP

Estland und Russland haben am Mittwoch (18.5.) in Moskau einen Vertrag über den Grenzverlauf unterzeichnet und damit einen jahrelangen Konflikt beigelegt. Bis zuletzt hatte man über das Datum und den Ort der Unterzeichnung gestritten. Estland bestand auf dem 2. Februar in Tartu - an diesem Tag im Jahr 1920 wurde in dieser estnischen Stadt der Vertrag über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Estland und der Sowjetunion geschlossen. Russland dagegen schlug Moskau vor und als Datum den 9. Mai - im Rahmen der Feierlichkeiten zum Sieg im Zweiten Weltkrieg sollte der schon so lange unterschriftsreife Grenzvertrag besiegelt werden. Estlands Präsident Arnold Rüütel sagte jedoch ab. Sein Land - zusammen mit den zwei weiteren baltischen Ländern Litauen und Lettland - habe ja am 9. Mai keinen Grund zu feiern. Der Sieg der Roten Armee 1945 brachte für die Balten 45 weitere Jahre Besatzung und Unterwerfung. Hunderttausende wurden verschleppt, Zehntausende ermordet.

Streit um die russischen Minderheiten

Es sind also historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts, die nach wie vor die baltisch-russischen Beziehungen im Griff halten. Auch wenn nach außen hin andere Gründe genannt werden. Der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung im Baltikum, Andreas von Below: "Der Hauptgrund liegt darin, dass die Regierung in Moskau bisher noch nicht bereit war, diesen Vertrag zu unterschreiben, weil von dort aus immer gesagt wurde, dass die russischen Minderheiten in Estland und auch in Lettland nicht so behandelt werden, wie es den Konventionen der Menschenrechte entspräche."

Die russischsprachigen Minderheiten bedeuten konkret: etwa ein Drittel der Bevölkerung Estlands und sogar 40 Prozent der Bewohner Lettlands. Vielen von ihnen wird die Staatsbürgerschaft verweigert - solange sie die entsprechenden Anforderungen nicht erfüllen, vor allem die Beherrschung der jeweiligen Sprachen. Keine leichte Aufgabe: Das Estnische und das Lettische sind mit dem Russischen nicht im entferntesten verwandt. Andreas von Below: "Diese Bevölkerungsgruppen, die dort leben, sind ja in der sowjetischen Zeit dorthin gekommen, zum Teil bewusst dort angesiedelt worden. Und jetzt haben diese Völker Estlands und Lettlands eben die Aufgabe, diese Bevölkerungsteile in die Gesellschaft zu integrieren."

Bürokratische Hindernisse bei der Staatsbürgerschaft

Dazu gehört in der Regel auch die Erlernung der Landessprache. Doch bei einem so großen Anteil an russischsprachigen Minderheiten ist die Entstehung von Parallelgesellschaften, in denen es eben nicht notwendig ist, die Landessprache zu beherrschen, eher wahrscheinlich. Befremdend auch die staatliche Regelung in Lettland, dass auch die nach 1991, also nach der Erlangung der Unabhängigkeit, im Land Geborenen nicht automatisch Staatsbürger werden können. So hat auch die Europäische Union ihre baltischen Neumitglieder wiederholt aufgefordert, bürokratische Hindernisse bei der Erteilung der Staatsbürgerschaft abzubauen.

Moskau wollte Lettland und Estland sogar von der UN-Menschenrechtsversammlung verurteilen lassen. Eine "ernste Krankheit im Zentrum Europas" nannte Russlands Vizeaußenminister Jurij Fedotow die massenhafte Verweigerung der Staatsbürgerschaft. Andererseits besitzt jeder sechste Einwohner Estlands einen russischen Pass. Migrationsbewegungen Richtung Russland werden aber nicht beobachtet. Das EU-Land bietet offensichtlich selbst für die ethnischen Russen eine bessere Perspektive.

Diskussion um Kollaborateure

Ein anderer Kritikpunkt, der von Moskau vor allem gegen Lettland erhoben wird, ist die angebliche "Lobpreisung" von Kollaborateuren des Nazi-Regimes. Andreas von Below: "Es stimmt natürlich, dass auch Letten in der Zeit des Nationalsozialismus mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet haben. Das Motiv, das überwiegende Motiv dieser Menschen war nicht so sehr, den Nationalsozialismus zu unterstützen, sondern das überwiegende Motiv war, die lettische Nationalität gegen sowjetische Angriffe zu verteidigen."

Doch ausgerechnet die lettische Präsidentin Vaira Vika-Freiberga reiste als einzige von den Staatsoberhäuptern der drei baltischen Staaten am 9. Mai nach Moskau. Anders als ihr Premier Aigars Kalvitis gilt die Auslands-Lettin, die in Westeuropa und Kanada aufwuchs, als kompromissbereite Politikerin. Und doch beziehe sie klar Stellung, sagt von Below: "Ich glaube, dass die lettische Präsidentin deutlich gemacht hat, dass sie einerseits bereit ist, mit dem Nachbar Russland gute Beziehungen zu haben. Dass sie andererseits aber nicht bereit ist, einfach darauf zu verzichten, die historische Wahrheit wirklich auszusprechen und das Okkupation zu nennen, was auch Okkupation war, aber genau das verweigert ja Moskau."

Neue Forderungen aus Lettland

Dafür gibt es handfeste Gründe: Russland fürchtet finanzielle Forderungen, die Lettland über internationale Gerichte eintreiben könnte. Ein Signal hat das lettische Parlament am letzten Freitag (13.5.) gesandt: Der Sejm, das lettische Parlament, in Riga hat in einer Deklaration die Besetzung des Landes durch die Sowjetunion verurteilt. Zugleich wird von Russland als Rechtsnachfolger Schadenersatz bis zu 100 Millionen Dollar verlangt. Ein neuer Stoff für weitere Konflikte?

Im Vorfeld der Siegesfeier am 9. Mai hatte es schon einen Konflikt gegeben: Nachdem Lettland Territorialforderungen an Russland stellte, verzichtete Russland auf die Unterzeichnung des Grenzvertrags mit Riga. Die neuerlichen Forderungen aus Riga werden wohl keine Entspannung in die beiderseitigen Beziehungen bringen.

Wirklich entspannt kommt dagegen ein russisch-schwedisch-estnisches Projekt daher: Zwischen der estnischen Stadt Narwa und dem russischen Iwangorod soll ein Badepark entstehen - im Tal des Grenzflusses Narwa. Die Besucher von "Waterjoy" - wie das Freizeitzentrum heißen soll - hätten von beiden Seiten her visafreien Zugang.

Vladimir Müller
DW-RADIO, 18.5.2005, Fokus Ost-Südost