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Sönmez: "Keine anti-demokratische Politik für die Türkei"

Elizabeth Grenier / ad18. Juli 2016

Der türkische Autor Burhan Sönmez fürchtet, dass als nächstes linksliberale Journalisten in Erdoğans Visir geraten könnten. Er glaubt, dass Zensur in der Türkei noch viele Jahre an der Tagesordnung sein wird.

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Der Autor Burhan Sönmez (Copyright: imago/ZUMA Press)
Bild: imago/ZUMA Press

DW: Hat der Putschversuch in der Türkei Sie überrascht?

Burhan Sönmez: Ich war sehr erstaunt und ich glaube auch, dass die Mehrheit der Gesellschaft darüber erstaunt war, da das Militär und die Regierung bei fast allen Themen gut zusammengearbeitet hatten. Niemand hatte so etwas erwartet.

Wie erklären Sie sich dann, dass es trotzdem plötzlich geschah?

Das liegt in der Natur der Türkei. Da gibt es keine Stabilität in Politik und Gesellschaft, sodass man jederzeit auf alles gefasst sein muss, was das Militär und die Regierung anbelangt. Dieses unerwartete Ereignis ist einfach ein Resultat davon.

Wie ist Ihre Reaktion auf die Nachwirkungen des misslungenen Umsturzes?

Was beängstigend ist, ist der Zusammenprall zweier teuflischer Kräfte am letzten Freitag. Mit dem Ausdruck "teuflisch" meine ich, dass beide Seiten böse sind. Die eine Seite ist die Armee, die Umsturzplaner, und die andere Seite ist die Regierung, die auch nicht gerade demokratische Prinzipien anwendet. Der Zusammenprall dieser beiden Kräfte wird der Türkei keine Demokratie bringen - deshalb sind wir äußerst besorgt. Nun haben wir zwar das parlamentarische System gerettet, aber das bedeutet nicht, dass wir das demokratische System gerettet hätten, weil Erdoğan dieses benutzt, um seine Politik weiter eskalieren zu lassen, wie auch seinen persönlichen Ehrgeiz und sein pro-Islam Regime. Das ist für uns besorgniserregend.

Im Land findet eine zunehmende Polarisierung statt. Glauben Sie, das könnte zu einem Bürgerkrieg führen?

Das glaube ich nicht, weil die demokratische Opposition nicht auf der Straße ist. Sie wollen sich nicht mit diesen Leuten anlegen. Als wir vor drei Jahren, während der Proteste im Gezi-Park, zum letzten Mal alle zusammen auf die Straße gingen, haben wir uns sehr friedlich verhalten. Obwohl Polizei und Armee über zehn Personen töteten und 10.000 Demonstranten verletzten, blieben wir sehr friedfertig.

Wer sind diese Tausende von Personen, die jetzt nach dem gescheiterten Putschversuch verhaftet werden?

Erdoğan benutzt den Putschversuch, um sich der gesamten Opposition zu entledigen, da er keine Kritik vertragen kann. Innerhalb von einem Tag wurden 10.000 Personen verhaftet, 2.745 Richter und Staatsanwälte wurden ihrer Positionen enthoben - kann man das überhaupt glauben? Sind die denn alle Teil dieses Putschversuchs gewesen? Nein, das ist unvorstellbar. Also wird der Coup nur als Vorwand missbraucht. Das ist nur der erste Streich, aber der zweite wird noch folgen.

Woraus könnte dieser zweite Streich bestehen?

In den sozialen Netzwerken wird über die Namen von Journalisten spekuliert, die verhaftet werden sollen, die meisten davon sind pro-Fethullah-Gülen und Islam-konservative Journalisten oder liberale linksgerichtete Journalisten. Also werden sich die nächsten Maßnahmen gegen linksgerichtete Regierungskritiker, linke Studentenorganisationen und Menschenrechtsorganisationen richten. Bislang sind die unbehelligt geblieben, aber es wäre möglich, dass sie als nächstes an die Reihe kommen.

Fühlen Sie sich als Autor der unabhängigen linksgerichteten Zeitung "BirGün" persönlich bedroht?

In der Türkei können Personen wie ich, die die Menschenrechte verteidigen und in der alltäglichen Politik sehr aktiv sind, jederzeit von der Regierung bedrängt werden. Das könnte gestern oder vorgestern gewesen sein, oder morgen oder übermorgen stattfinden. Es ist keine gute Idee, darüber nachzudenken oder herumzurätseln, wenn man in der Türkei lebt, da das leider zu diesem Land dazugehört. Die geben einem keinen Anlass zur Langeweile. Hier gibt's keine Langeweile! Man ist immer von Angst und Gefahr umgeben - aber da gewöhnt man sich dran. Wir kämpfen weiterhin für unsere Prinzipien.

Sie sind der Gründer der sozial-aktivistischen Organisation TAKSAV, ein Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, und auch des PEN-Zentrums für Schriftsteller. Wie werden die derzeitigen Entwicklungen Ihr Engagement für die Meinungsfreiheit und die Menschenrechte beeinflussen?

Ich werde weitermachen, ich habe dieser Tage mit der internationalen Presse gesprochen. Leute wie ich sollten weiterhin ihre demokratischen Werte zum Ausdruck bringen. Unsere Gesellschaft darf nicht einer anti-demokratischen Politik überlassen werden.

Sie sind einst selbst Opfer von Polizeigewalt geworden. Jetzt, nach dem Putschversuch, gibt es wieder besonders viel Aufmerksamkeit für die Art und Weise, wie Erdogan mit seinen Kritikern umgeht. Aber die Situation ist ja schon lange sehr schwierig. Hat es bereits vor dem Putschversuch einen bestimmten Moment gegeben, an dem Sie bemerkt haben, wie die Meinungsfreiheit in der Türkei eingeschränkt wird?

Es ist eine langsame Veränderung. Seit vielen Jahren wurden ja soziale Netzwerke wie Twitter ab und zu mal blockiert. Gestern wurden zehn Nachrichten-Webseiten blockiert. Die sind noch nicht einmal mit Fethullah Gülen verbunden. Das sind linksgerichtete oder sozialdemokratische Nachrichtenseiten. Diese Zensur wird nicht an einem bestimmten Punkt aufhören. Die wird noch viele Jahre so weitergehen. Aber wir werden weiterkämpfen für die Meinungsfreiheit und die Demokratie.

In Ihrem 2015 erschienenen Roman "Istanbul Istanbul" geht es um Häftlinge, die sich durch Geschichtenerzählen eine Ablenkung von der Folter verschaffen wollen. Kann das Erzählen von Geschichten uns auch Hoffnung für die Zukunft der Türkei geben?

Buchcover von Burhan Sönmez' Roman "Istanbul Istanbul" (Quelle: İletişim Yayıncılık)
"Istanbul Istanbul" von Burhan SönmezBild: iletisim

Dieser Roman zeigt, dass Menschen, obwohl sie Schmerzen erleiden, trotzdem ihren Glauben an die Zukunft aufrecht erhalten und ihre Träume haben.

Leute so wie ich, wir glauben seit vielen Jahren an dieses Land. Wenn man mich fragt, ob ich ein gutes Jahr in diesem Land erlebt habe, werde ich mit 'Nein' antworten. Jedes Jahr ist noch schlimmer gewesen, als das Jahr davor. Aber das bedeutet, dass unsere Hoffnungen immer größer werden. Anders könnte man hier nicht überleben.

Und jetzt erzähle ich Ihnen was ganz Unrealistisches: Ich bin voller Zuversicht, was die Zukunft meines Landes angeht - ansonsten hätte ich es schon längst verlassen. Aber ich bin immer noch hier. Leute wie ich sind immer noch hier. Wir werden unseren Aufruf für mehr Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Toleranz und Frieden weiter fortführen. Denn wir brauchen all das noch dringender als jemals zuvor.

Der preisgekrönte Autor Burhan Sönmez hat drei Romane veröffentlicht: "Norden" (2009), "Sünden und Unschuldige" (2011) und "Istanbul Istanbul" (2015). Der Menschenrechtsaktivist verfasst auch Beiträge für diverse Zeitungen und Zeitschriften. 1996 wurde er Opfer von Gewalt seitens der türkischen Polizei. Mit Hilfe der Organisation "Freedom from Torture" konnte er in London behandelt werden.