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Aussitzen - Spiel auf Zeit

19. Januar 2012

Kritik abprallen lassen, negative Medienberichte ausblenden, Vorwürfe im Sande verlaufen lassen: Das Aussitzen von Skandalen ist ein wichtiges Rüstzeug von Politikern. Sonst hätten es viele nicht so weit gebracht.

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Ein abgewetzter Stuhl (Foto: Maximilian Schönherr)
Bild: picture-alliance/Maximilian Schönherr

Ein Politiker schlägt die Zeitung auf und liest nur noch Negatives über sich. Die gesamte Medienwelt scheint sich gegen ihn verschworen zu haben. Im Internet wurden Schmähseiten über ihn eingerichtet, im Fernsehen gibt es vernichtende Kommentare, und die Kritik reißt nicht ab. Zunächst stand ein Vorwurf im Raum. Der Politiker hat sich daraufhin reflexartig verteidigt, und jetzt werden scheibchenweise immer neue Informationen über seine Verfehlungen ans Tageslicht gezerrt. Doch der Politiker harrt aus. Er versucht, die Angelegenheit herunter zu spielen. Er versucht, die Krise auszusitzen.

Aktuell kann man so den Skandal um Bundespräsident Christian Wulff zusammenfassen, aber diese Beschreibung passt im Prinzip auf fast alle Politiker-Skandale, meint der Hamburger Historiker Michael Philipp. Nur der Ausgang sei von Fall zu Fall verschieden. Philipp hat in seinem Buch "Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen" 250 Rücktrittsfälle von Politikern aus 60 Jahren deutscher Geschichte untersucht. Mal zeigten die Volksverteter mehr, mal weniger Sitzfleisch.

Bundespräsident Christian Wulff (Foto: dpa)
Bundespräsident Christian WulffBild: picture-alliance/dpa

Manfred Stolpe konnte nichts erschüttern

Als Meister des Aussitzens kann demnach Manfred Stolpe bezeichnet werden. Als Ministerpräsident von Brandenburg gelang es ihm über nahezu drei Jahre, eine Skandalisierung zu überstehen. "Das ist eine ungewöhnlich lange Dauer", meint Philipp. "Von den ersten Diskussionen über seine Stasi-Vergangenheit Anfang 1992 bis Ende des Jahres 1994 hat er verschiedene Rücktrittsforderungen, Untersuchungs-Ausschüsse, Koalitionsbrüche und Rücktritte von Ministern überstanden, nichts konnte ihm etwas anhaben. Er ist derjenige, der am längsten umstritten war."

Doch wie kann man solche Dauer-Vorwürfe wie im Fall Stolpe überstehen? Philipp zufolge hat das vor allem mit dem politischen Umfeld zu tun. Natürlich sollte man sich möglichst wenig um die Medienberichterstattung scheren, aber "das Entscheidende, was einen Politiker im Amt hält, das ist der ungebrochen große Zuspruch seiner Partei." Die Partei stellt sich Philipp zufolge einfach die Frage: "Kann uns dieser Kandidat bei der nächsten Wahl gefährlich werden oder kann er uns nützen. Solange ein Wahlerfolg nicht gefährdet ist, wird die Partei ihren Kandidaten auch im Amt behalten."

Manfred Stolpe, ehemaliger Ministerpräsident von Brandenburg (Foto: AP)
Manfred Stolpe, ehemaliger Ministerpräsident von BrandenburgBild: AP

Das wichtigste ist das Netzwerk in der Partei

Wie lange ein Skandal ausgesessen werden kann ist demnach also keine Entscheidung des Politikers selbst. Er ist Philipp zufolge hauptsächlich abhängig von der Meinung seiner Parteikollegen. Und dazu muss er schon Jahre zuvor ein gutes Netzwerk in seiner Partei aufgebaut haben. Auch Thomas Kliche unterstützt diese Meinung. Der Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal meint: "Ein Politiker hat eigentlich Erfahrung mit Niederlagen, sonst kommt er nicht soweit. Und er hat auch Erfahrung darin dass er sich bei Problemen auf sein Netzwerk verlassen kann."

Jemand der das in Deutschland zur Perfektion getrieben hat, ist Bundeskanzler Helmut Kohl. Er gilt für viele als Paradebeispiel des Aussitzens. Über Jahre hinweg überstand er Krisen, an denen andere Politiker wohl zerbrochen wären, zum Beispiel eine Schwarzgeld-Affäre. Doch Kohl galt als Garant für Wahlerfolge, sein Netzwerk innerhalb der Partei war beispiellos. Das machte ihn lange Zeit unangreifbar, und nicht nur ihn, sondern auch viele Politiker, über die er eine schützende Hand hielt.

"Das Internet ändert nichts am Prinzip Aussitzen"

Das gilt auch für Manfred Wörner. Der damalige Verteidigungsminister sorgte 1984 mit der sogenannten "Kießling-Affäre" für Aufsehen. Wörner entschied, dass der Vier-Sterne-General Günter Kießling wegen seiner angeblichen Homosexualität ein Sicherheitsrisiko sei. Das würde ihn erpressbar machen. Deshalb versetzte Wörner ihn kurzfristig in den Ruhestand. Der Skandal war geboren, hatte aber Historiker Michael Philipp zufolge keine Konsequenzen: "Im Fall Wörner hatte die Legislaturperiode gerade erst begonnen. Kohl setzte darauf, dass der Skandal bis zur nächsten Wahl vergessen wird und der Wahlsieg nicht gefährdet ist. Und damit lag er auch richtig."

Politikpsychologe Thomas Kliche (Foto: privat)
Politikpsychologe Thomas KlicheBild: Privat

Medienberichte ausblenden, Kritik abprallen lassen, auf Zeit spielen. Mit diesen Strategien kann ein Skandal bewältigt werden, selbst in Zeiten des Internet, meint der Historiker Philipp. "Durch das Internet ist die Frequenz erhöht worden, das Nachrichtenkarussell dreht sich immer schneller, und dementsprechend bedarf es auch einer entsprechenden Konstitution, aber das Prinzip des Aussitzens hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert."

Die zusätzliche Anspannung eines Politikers während einer Krise schätzt Politikpsychologe Kliche als nicht sonderlich bedeutend ein: "Führungskräfte generell haben die Erfahrung gemacht, dass sie Erfolg haben. Und Erfolg ändert Menschen. Sie glauben, sie kriegen alles hin. Dieser Gestaltungsoptimismus und Überlebensoptimismus hält erstmal eine ganze Weile." Zudem hätten Politiker ohnehin sehr viel zu tun. Die Koordination der Krise käme dann noch dazu, aber "in der Situation selber realisiert ein Politiker das nicht als total zermürbenden Druck. Er weiß ja, dass er in der Öffentlichkeit steht. Das ist also 'business as usual', aber gesteigert."

Manfred Wörner, 1984 Verteidigungsminister (Foto: dpa)
Manfred Wörner, 1984 VerteidigungsministerBild: picture-alliance/dpa

"Man macht es sich emotional erträglich"

Alternativen zum Aussitzen gebe es ohnehin kaum, meint Politikpsychologe Thomas Kliche. Ein voreiliger Rücktritt würde oft bedeuten, dass ein Politiker seine Existenz aufgibt. Deshalb würden Politiker verschiedene Strategien entwickeln, mit dem öffentlichen Druck umzugehen. Wenn man an der Realität nichts ändern könne, dann mache man es sich emotional erträglich, meint Kliche. "Zum Beispiel kann man sich vergleichen mit Leuten denen es noch schlechter geht. Das ist sehr beliebt. Dadurch fühlt man sich gleich besser." Das funktioniere auch biografisch, indem man sich sage 'Du hast doch auch schon viel schlimmere Situationen gemeistert', ergänzt Kliche. "Da Politiker dauernd in der Öffentlichkeit stehen, haben sie das natürlich eingeübt. Sie können ihre Gefühle sehr gut steuern." Unterstützung erhielten sie zudem auch durch ihr soziales Umfeld, ihre Familie. Das mache sie emotional stark.

Italien und England ticken anders

Der Historiker Michael Philipp glaubt, dass es Politiker in Italien einfacher haben, Skandale zu überstehen. Dort könnten sie viel mehr Vorwürfe im Amt aushalten. "Vielleicht, weil die Medien dort anders funktionieren, vielleicht weil die Toleranz größer ist." Der Deutsche habe dagegen einen Hang zur Skandalisierung von Umständen, die in großen Teilen der Welt allenfalls belächelt würden. In Großbritannien allerdings käme es noch häufiger und schneller zu Rücktritten als in Deutschland.

Historiker Michael Philipp (Foto: privat)
Historiker Michael PhilippBild: Michael Philipp

Philipp fordert letztlich eine andere Rücktritts-Kultur in Deutschland, denn wenn Vorwürfe begründet seien, müsse auch die Konsequenz gezogen werden. Auf die Gefühlslage der Politiker könne man dann keine Rücksicht nehmen: "Über die Kritisierung eines Amtsträgers verhandelt eine Gesellschaft ihre Wertvorstellungen. Wenn ein Politiker zurücktritt, nimmt er den Makel des Skandals mit. Dadurch wird Schaden vom Amt abgewendet. Bleibt ein Rücktritt nach berechtigter Kritik aber aus, dann ist das ein weiterer Baustein für die Politikverdrossenheit."

Autor: Klaus Jansen
Redaktion: Nils Naumann