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Aus der Traum

Nikos Späth, Deutsche Welle Washington29. Januar 2004

Ein toller Job, eine hübsche Ehefrau, eine Million Dollar? Kein Problem. Im amerikanischen Reality-TV wird rund um die Uhr der American Dream gelebt. Gewinner aber gibt es nur wenige.

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Der braungebrannte Kerl mit dem dunklen Pferdeschwanz kaut missmutig auf seiner Unterlippe. Er ist draußen. Meredith wollte ihn nicht. Dabei hatte er vor dem "Nein" der hübschen "Bachelorette" (Junggesellin) noch getönt, ihn habe noch keine Frau abgewiesen. Jetzt ist es passiert. Die Folge: Ein zumindest temporärer Ego-Schaden.

Solche "Schicksale" – dies ist noch ein eher harmloses – sieht man dutzendfach an einem Fernsehabend in den USA. Die großen Sender NBC, ABC und FOX haben bis zu drei Reality-Shows am Tag im Programm – in der Prime-Time, vor bis zu 30 Millionen Zuschauern. Das Prinzip ist das gleiche wie in Deutschland. Man kennt es seit "Big Brother", den "Superstars" und zuletzt der Dschungel-Show "Holt mich hier raus": Es geht um Siegen und Verlieren, schön und hässlich sein, reich und arm, um Ekel, Wut und Tränen. Es ist vor allem ein darwinistisches Prinzip nach dem Motto: "Es waren einmal zehn ... neun ... acht ..." Übrig bleibt ein einziger, großer Gewinner: He takes it all. Für ein Jahr kann er sich als Star fühlen. Dann läuft die nächste Staffel an – und er wird wieder von der Medienmaschinerie verschluckt.

Eine Schmerzgrenze weiter

Der Unterschied der US-Reality-Shows zu jenen in Deutschland aber ist (noch), dass sie eine Schmerzgrenze mehr überschreiten. Ziemlich sicher ist aber auch: Was momentan in den amerikanischen Glotzen läuft, schwappt bald auf deutsche Fernsehschirme über. Hier schon mal ein Vorgeschmack:

Da ist zum Beispiel "Fear Factor" (Angstfaktor) auf NBC – ab März auch in Deutschland zu sehen. Junge, meist gut aussehende Menschen stellen sich dabei haarsträubenden Mutproben und tun alle nur erdenklichen Ekelhaftigkeiten, um eine Million Dollar zu gewinnen. Kostprobe: Mit den Zähnen transportieren sie Kuhgehirne oder andere faulende Tierteile von einer mit stinkenen Soße gefüllten Wanne in die andere. Oder sie schlürfen einen randvoll gefüllten Becher mit leckerem Maden-Shake aus. Vorher durften die Teilnehmer bereits einen entsprechend krabbeligen Kuchen kosten. Die Shake-Idee gab es ein paar Wochen zuvor bereits mit lebenden Regenwürmern. Wenn da deutsche Tierschützer nicht aufschreien!

Darwinismus pur

Aufschreien würden Gutmenschen wohl auch bei "The Apprentice" (Der Auszubildende), einer NBC-Sendung, die dem globalen Kapitalismus in seiner rohesten Form ein Denkmal setzt. Acht Jungs und Mädels, Mitte bis Ende 20, ausgerüstet mit einem Wirtschaftsbachelor und Berufserfahrung als Immobilien-Makler, Wallstreet-Broker oder Marketing-Fachmann, liefern sich – nach Geschlechtern getrennt – einen unbarmherzigen Wettkampf um einen Geschäftsführer-Job bei Donald Trump. Jahresgehalt: 250 000 Dollar. Das will jedoch hart verdient sein. Der amerikanische Selfmade-Milliardär mit dem schütteren Haar genießt es jedesmal sichtbar, einem der schlotternden Kandidaten ein schallendes "You are fired" ins Gesicht zu werfen. Das heißt dann: Koffer nehmen und im Aufzug 58 Etagen nach unten rauschen. Darwinismus pur. Vertreter der Frauenquote indes hätten ihren Spaß an der Sendung: Die weiblichen Karrieristen liegen bislang klar vorn.

Weinkrämpfe und Übermenschen

Und so geht das Reality-TV-Spektakel weiter. Da kämpfen zwölf Mädels auf UPN um die Rolle von "America’s Next Top Model". Preis: ein hochdotierter Laufstegvertrag. Am ersten Tag aber müssen sie sich erst mal nackt ausziehen und werden für ein Fotoshooting angemalt. Ein anderes Mal wird einer Blondine unter Weinkrämpfen ihr langes Haar kurz geschoren. Kneifen gilt nicht: Mitmachen oder gehen, heißt die Devise. Glück für die, die bald wieder kellnern oder studieren dürfen.

In ABC’s "Bachelorette" streiten 25 Männer um ihre künftige Ehefrau, ihrerseits Model. Da fliegen schon mal die Fäuste. Und bei "Average Joe Hawaii" (Durschnitts-Joe Hawaii) versucht ein Haufen kleiner, dicker, Brille tragender oder unter Haarausfall leidender Kerle das Herz der schönen Larissa, einer ehemaligen Miss Missouri, zu erobern. Als die Durchschnittstypen sich schon von achtzehn auf acht dezimiert haben und die Hoffnungen jedes Einzelnen steigen, legt eine Schiffsladung gut aussehender, waschbrettbäuchiger Supermen an. Larissa strahlt, und einer der Übermenschen verspricht sogleich: "Wir werden die Trottel von der Insel jagen. Survival of the fittest." Das schüchtert die Average Joes dermaßen ein, dass sie ihre Minderwertigkeitskomplexe aus der Schulzeit neu erleiden.

Der amerikanische Traum ausgeträumt

Was sagt das über die amerikanische – synonym westliche – Gesellschaft aus? Dass nicht jeder ein Millionär, ein Geschäftsführer oder ein Topmodel sein kann. Dass nicht jeder ein Covergirl findet oder gar heiratet. Und dass der American Dream nur für die wenigsten Wirklichkeit wird.

Doch offenbar gerade deshalb schalten Millionen ein. Du bist nicht allein, lautet nämlich die Botschaft der Glotze an den durchschnittlichen Zuschauer, der vergeblich den amerikanischen Traum träumt: So viele Durchschnitts-Joes gibt es da draußen. Und außerdem: Die Realität ist ja auch nicht schlecht. Auf der Fernsehcouch zum Beispiel.