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Auftakt im Mega-Prozess um Juntaverbrechen

11. Dezember 2009

Die Marineschule ESMA in Buenos Aires diente während der Diktatur als Geheimgefängnis. Geschätzte 5000 Gefangene wurden hier gefoltert und in vielen Fällen umgebracht. Nun wird den Verantwortlichen der Prozess gemacht.

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(Foto: DW/Victoria Eglau)
Menschenrechtler gehen von 30.000 Verschwundenen ausBild: DW/ Victoria Eglau

Im April 1977 wurde der Sohn von Nora Cortiñas in einem Vorort von Buenos Aires auf dem Weg zur Arbeit verschleppt. Ein Jahr zuvor hatte in Argentinien die Diktatur begonnen. Gustavo war Mitglied der Peronistischen Jugend, einer der Organisationen, die von den Militärs erbarmungslos verfolgt wurden. Er gehört zu Argentiniens desaparecidos, Verschwundenen, laut Menschenrechts-Organisationen 30.000 an der Zahl. Nora Cortiñas war eine der ersten Mütter von desaparecidos, die sich ab 1977 wöchentlich auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires versammelten, um Informationen über den Verbleib ihrer Kinder zu fordern.

In Argentinien sind 41 Chefs und Schergen der ehemaligen Militärdiktatur (1976-1983) verhaftet worden.
"Blonder Todesengel": Ex-Marineoffizier Alfredo AstizBild: dpa

Cortiñas erinnert sich noch gut an den jungen Mann, der eines Tages auf dem Platz erschien: „Wir waren damals noch nicht viele Mütter. Unsere Wortführerin hiess Azucena Villaflor. Als der unbekannte Mann zu uns kam, fragte Azucena ihn: "Was tust Du hier? Wir wollen hier keine jungen Leute, es ist zu gefährlich für euch. Er sagte, sein Bruder sei verschwunden, und da seine Eltern in einer anderen Stadt lebten, müsse er den Bruder suchen. Er hat uns eine komplette Lügengeschichte aufgetischt." Wie Nora Cortiñas heute weiss, hieß der junge Mann Alfredo Astíz und war ein Geheimagent der argentinischen Marine. Er gehörte zum Personal eines der größten Diktatur-Gefängnisse, das sich auf dem Gelände der ESMA befand, der Mechanik-Schule der Marine in Buenos Aires. "Astíz erfuhr, dass wir Angehörigen von Verschwundenen uns auch in der Santa Cruz-Kirche trafen. Also begann er, auch dort aufzutauchen, erzählte von seinem angeblich verschwundenen Bruder und erschlich sich das Vertrauen mehrerer Personen", erzählt Nora Cortiñas weiter. "Wir haben nichts gemerkt, wir waren sehr naiv."

Infiltrierung der Mütter der Plaza de Mayo

(Foto: DW/Victoria Eglau)
Nora Cortiñas: eine der Mütter der Plaza de MayoBild: DW/ Victoria Eglau

Ihr Vertrauen in Astíz, den einige blonden Engel nannten, wurde den Angehörigen zum Verhängnis. Am 8. Dezember 1977 wurden zwei Mütter von desaparecidos sowie die französische Nonne Alice Domon am Ausgang der Santa Cruz-Kirche von einem Einsatzkommando der ESMA verschleppt. Domon und ihre Freundin, die Nonne Leonie Duquet, hatten die Angehörigen bei ihrer Suche unterstützt. Wenige Tage später entführten Sicherheitskräfte auch Duquet, sowie Azucena Villaflor, die Wortführerin der Madres de Plaza de Mayo. Alle Opfer wurden Zeugen zufolge ins Geheimgefängnis und Folterzentrum ESMA gebracht. Die Infiltrierung der Mütter-Gruppe ist eines der diversen Verbrechen, derentwegen sich Alfredo Astíz nun in Buenos Aires vor Gericht verantworten muss.

"Astíz ist eine der bekanntesten Figuren, die im Gefängnis ESMA im Einsatz waren. Er war ganz klar an der Verschleppung der Angehörigen und Nonnen aus der Santa Cruz-Kirche beteiligt. Das beweist auch seine Verurteilung in Frankreich", sagt die Juristin Carolina Varsky, die beim ESMA-Prozess mehrere Kläger vertritt, darunter die Gründungsorganisation der Madres de Plaza de Mayo. Mutter Nora Cortiñas wird vor Gericht als Zeugin aussagen. Wegen des Verschwindens der französischen Nonnen war Ex-Marinekapitän Alfredo Astíz 1990 in Frankreich in Abwesenheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Erst 2003 wurde er in Argentinien festgenommen. Neben dem heute 58-Jährigen Astíz sitzen im sogenannten Megaverfahren ESMA 18 weitere Personen auf der Anklagebank, viele von ihnen ebenfalls ehemalige Angehörige der Marine.

Betäubt aus Flugzeugen ins Meer geworfen

Alfredo Astiz, der blonde Folterknecht
Alfredo Astiz im Jahr 2003Bild: Steffen Leidel

In den kommenden sechs Monaten wird es nur um einen Teil der Verbrechen gehen, die vom Personal der ESMA begangen wurden. Kläger-Anwältin Carolina Varsky: "Schätzungsweise 5000 Menschen waren in der ESMA gefangen. In diesem Verfahren werden zunächst 85 Fälle verhandelt." Einer davon ist das Verschwinden des argentinischen Schriftstellers Rodolfo Walsh.

In der ESMA, genauer gesagt, im Offizierskasino der Mechanik-Schule der Marine, wurden Gefangene gefoltert und mussten Wochen oder Monate lang gefesselt und mit Kapuzen auf dem Kopf ausharren. In der ESMA kamen Babys von Frauen auf die Welt, deren Spur sich danach verlor, während ihre Kinder bei fremden Familien aufwuchsen. In der ESMA wurden Gefangene betäubt und danach aus Flugzeugen ins Meer oder in den Rio de la Plata geworfen.

Wenige Zeugen im Megaverfahren

Foto: Steffen Leidel
Die Marineschule ESMA heuteBild: DW

Etwa 200 Menschen überlebten die Gräueltaten - einer von ihnen ist Victor Basterra, der fast viereinhalb Jahre in der ESMA festgehalten wurde und dem es gelang, Fotos von Gefangenen und ihren Peinigern herauszuschmuggeln. Er ist einer der wichtigsten Zeugen in dem Megaverfahren. "Ohne unseren Beitrag, den Beitrag der Überlebenden, wäre alles viel unklarer, lägen die Geschehnisse viel mehr im Dunkeln. Die Prozesse gegen die Diktaturverbrecher leben von uns, die durch unsere Erinnerungen Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit erreichen wollen."

Einige Geschehnisse liegen nicht mehr im Dunkeln. Wenige Tage vor Weihnachten 1977 wurde eine Reihe von Leichen an die argentinische Atlantikküste gespült und von den Behörden anonym bestattet. 26 Jahre später, 2003, gruben Forensiker die Überreste wieder aus. Sie identifizierten die drei verschwundenen Mütter der Plaza de Mayo und die französische Nonne Leonie Duquet. Sie waren bei sogenannten Todesflügen ins Meer geworfen worden.

Autorin: Victoria Eglau

Redaktion: Sven Töniges