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Literaturkolumne

Marlis Schaum, Naomi Conrad27. September 2011

Wir lassen die Eisschollen krachen, Biergläser kippen, nehmen Mordermittlungen auf und rauschen bei allem durch die isländische Volksseele. Dies ist eine Island-Spezial-Literaturkolumne, ein Appetizer vor der Buchmesse.

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Aufgeschlagene Bücher liegen auf einem Stapel © Mike Wolff
Bild: picture alliance/dpa

Ganz einfach macht es einem die isländische Literatur nicht. Die Sprache ist eine echte Herausforderung, auch in der Übersetzung. Kaum etwas wird so ausgesprochen, wie es geschrieben wird. Egal ob es um Stadtteile, Straßen oder Menschen geht, um Berge, Fjorde oder Volksfeste. Das führt leider dazu, dass man sich Namen schwer merken kann. Deswegen können isländische Krimis anstrengend sein, weil man regelmäßig zurück blättern muss, um herauszufinden wer denn diese "Dóttir-Irgendwer" noch mal war, deren Name der anderen "Dóttir-Irgendwas" zum Verwechseln ähnlich ist.

Dunkel, mysthisch, Gänsehaut

Zurückblättern haben die isländischen Krimis aber wirklich nicht verdient, und das Problem wurde zumindest für den deutschen Buchmarkt offensichtlich erkannt: in Yrsa Sigurðardóttirs Krimi "Feuernacht" ist eine praktische Personenliste samt Aussprachetipps bereits inklusive. Sigurðardóttir gehört neben Arnaldur Indridason zu den beliebtesten und erfolgreichsten Krimi-Autoren Islands.

Buchcover Yrsa Sigurdardottir: Feuernacht (Fischer Verlag)

"Feuernacht" ist nicht ihr aktuellstes Buch, aber eines, das sich mit etwas Gänsehaut gut genießen lässt: Anwältin Dóra soll untersuchen, ob der verurteilte Jakob wirklich ein Behindertenheim in Brand gesetzt hat, bei dem fünf Menschen ums Leben gekommen sind. Der junge Mann hat das Down-Syndrom. Anwältin Dóra stochert zwischen political correctness und einer Menge Vorurteile nach den wahren Tätern in einem komplexen Personendickicht, aus dem sie ganz langsam die Wahrheit herausholt. Ein bisschen Mystik ist auch dabei, ein Krimi für dunkle Jahreszeiten.

"Pesi stand auf Zehenspitzen am Fenster und spähte hinaus. Als er die Tür hörte, verstummte er und drehte sich um. Berglind schlug die Hand vor den Mund, als sie die beschlagene Fensterscheibe sah. "Hallo Mama." Pesi lächelte traurig. Berglind eilte zu ihrem Sohn und riss ihn unsanft vom Fenster weg. Sie drückte ihn an sich und versuchte gleichzeitig die Scheibe trocken zu wischen, aber die Dunstschicht verschwand nicht. Sie war von außen auf dem Glas. Pesi schaute seiner Mutter in die Augen. "Magga ist draußen und kann nicht rein. Sie möchte auf mich aufpassen." Er zeigte zum Fenster und verzog das Gesicht. "Sie ist ein bisschen sauer."

Winter, Rausch, Seelentrip

Gemessen an der Bevölkerungszahl werden in keinem Land so viele Krimis geschrieben wie in Island. Es gibt aber auch nur rund 318.000 Isländer. Und ihre Hauptstadt Reykjavik soll eins der besten Nachtleben Europas haben. Vielleicht gemessen an der Bevölkerungszahl, tatsächlich ist Hlynur aber nicht ganz unschuldig am guten Ruf des Nachtlebens. Hlynur aus dem Kultbuch "101 Reykjavik" von Hallgrímur Helgason aus dem Jahr 1996, das jetzt in Neuauflage als Taschenbuch erschienen ist. 101 Reykjavik heißt der Ausgehbezirk der isländischen Hauptstadt, den der 33 Jahre alte Hlynur nachts durchstreift, voller Sarkasmus und Arroganz, auf der Suche nach einer Frau, die ihn umhaut und dem Leben an sich. Hylnur lebt noch bei seiner Mutter, arbeitet nicht, Partys, Pornos und Lolla, die lesbische Freundin seiner Mutter, sind das einzige, das ihn interessiert.

Buchcover Hallgrímur Helgason: 101 Reykjavik (dtv)

"Sie ist clever. Ein Teufelsweib. Würde mir gerne mal ihr Höllenloch ansehen. Dabei sieht sie ganz wie eine eingeschlechtliche Frau aus. Ziemlich süß sogar. (...) Ich würde 30.000 für sie auf den Tisch blättern."

Lolla sorgt für Unruhe in Hylnurs bequemem Leben, und er wehrt sich dagegen. Ein dichter Romane voller Wortwitz, Rauscheskapaden und einem gnadenlos nervigen Hlynur, der sein Innenleben rücksichtslos nach außen kehrt. Was soll man auch sonst machen während der vielen dunklen und eisigen Wintertage… dieser Winter beeinflusst die isländische Literatur überhaupt sehr stark.

Meer, Freundschaft, Ängste

Zwischen Eis und Schneestürmen fragt sich auch Sunna Nönnudóttir, was aus ihrem Leben werden soll, die Hauptperson im Roman "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt". Sunna ist 32 und geht der Welt lieber aus dem Weg, bis sie im Internet liest, dass ihre ehemals beste Freundin Arndís, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat, vermisst wird.

Buchcover Audur Jónsdóttir: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt (btb)

"Arndís muss wahnsinnig geworden sein. Man nimmt automatisch an, dass Leute, die einfach abhauen, wahnsinnig geworden sind. Hören sie auf wahnsinnig zu sein, wenn man sie wieder findet? Das hängt sicher davon ab in welchem Zustand man sie wieder findet. Doch daran mag ich jetzt nicht denken."

In Rückblenden taucht man ein in die Freundschaftsgeschichte von Sunna und Arndís, ein Spiel der Abhängigkeiten. In der Gegenwart sucht Sunna widerwillig nach Arndís, und ihr Leben verändert sich dadurch. Sie muss sich alten Ängsten stellen und erkennt, dass sie nicht das Leben führt, das sie führen will. Das alles einfühlsam, lakonisch und klar erzählt von Autorin Auður Jónsdóttir, der Enkelin des bislang einzigen isländischen Literatur-Nobelpreisträgers, Halldór Laxness. Es ist ihr erstes Buch, das ins Deutsche übersetzt wurde. Hoffentlich folgen weitere.

Kioske, Isolation, Annäherung

Wer Geschmack gefunden hat an den isländischen Seelenwanderungen, der sollte sich Huldar Breiðfjörðs Roadtrip "Liebe Isländer" nicht entgehen lassen. Im klapprigen Geländewagen entflieht er der Monotonie Reykjaviks, in der sich wie in "101 Reykjavik" eine durchfeierte Nacht an die nächste reiht. Bei Minusgraden kämpft er mit seinem Auto gegen vereiste Straßen und Schneestürme, um Island zu durchqueren. Sein Ziel ist weniger, das Land kennen zu lernen, als sich selbst zu finden. Seine Reise verschwimmt zu einer Aneinanderreihung von Tankstellenkiosken und durchfrorenen Nächten im Auto.

Buchcover Huldar Breidfjörd: Liebe Isländer (Aufbau Verlag)

Die Kioske sind die Einkaufsmöglichkeiten, Videotheken und vor allem sozialen Treffpunkte der kleinen, isolierten Dörfer, durch die er fährt. Dort trinkt Huldar einen Kaffee nach dem anderen und beobachtet die Einheimischen aus der Distanz. Denn er schafft es kaum, mit den – wie er beschreibt – schüchternen und zurückhaltenden Menschen Kontakt aufzunehmen. Das ist schade. Denn der Roadtrip "Liebe Isländer" zeigt eine verschlossene Welt, der man sich gerne nähern würde. Huldars erfolglose Selbstfindung interessiert weniger.

Moral, Liebe, Kollision

Selbstfindung war auch in den 1950er Jahren in der isländischen Literatur schon ein Thema, die Partynächte und Exzesse dagegen damals noch verpönt. "Taxi 79 ab Station" von Indriði G. Þorsteinsson versetzt einen in diese Zeit. Taxifahrer Ragnar lebt in einer Männerwelt zwischen Schach, schmutzigen Witzen und billigem Alkohol. Er schlägt mit seinen Kollegen die Zeit tot, bis ihre Nummer gerufen und ihnen ein Gast zugewiesen wird. Kühl und trocken erzählt Þorsteinsson davon, wie im Reykjavik der 1950er Jahre konservativ-prüde Moralvorstellungen der Isländer mit der Freizügigkeit der dort stationierten amerikanischen Soldaten kollidieren.

Buchcover Indridi G. Thorsteinsson: Taxi 79 ab Station (Transit Verlag)
Bild: Transit Buchverlag

Auf einer nächtlichen Fahrt zum Militärstützpunkt begegnet Ragnar einer reichen Frau. Ihre Liebesgeschichte beginnt mit einem kaputten Keilriemen und scheitert an den Schuldgefühlen der verheirateten Frau und der Ablehnung von Ragnars Kollegen. Seine Flucht zurück aufs Land endet tragisch. Das Buch des Journalisten Þorsteinsson erschien 1955 und wurde sofort ein Riesenerfolg. Noch mehr Aufmerksamkeit bekam es sieben Jahre später durch die explizit erotische Verfilmung des dänischen Regisseurs Erik Balling.

Wer einmal angefangen hat, isländische Literatur zu kosten, wird sich davon nicht so schnell lösen können. Hier wird viel getrunken, nach dem Sinn des Lebens gefragt, sturer Humor verbreitet, und Grenzen werden getestet. Und die Namen kann man dabei ja einfach aussprechen, wie man will.


Yrsa Sigurðardóttir: "Feuernacht", Islandkrimi, Übersetzung: Tina Flecken, Fischer Verlag, 423 Seiten, ISBN 978-3-596-18870-3, 8,95 Euro

Hallgrímur Helgasson: "101 Reykjavik", Roman, dtv, 440 Seiten, ISBN 978-3-423-21258-8, 9,95 Euro

Auður Jónsdóttir: "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt", Übersetzung: Kristof Magnusson, Roman, 288 Seiten, ISBN 978-3-442-75253-9, 19,99 Euro.

Huldar Breiðfjörð: "Liebe Isländer", Übersetzung: Gisa Marehn, Roman, Aufbau Verlag, 224 Seiten, ISBN 978-3-351-03341-5, 16,95 Euro.

Indriði G. Þorsteinsson: "Taxi 79 ab Station", Übersetzung: Betty Wahl, Roman, Transit Verlag, 120 Seiten, ISBN 978-3-88747-247-4, 14, 80 Euro.