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Aufgelesen

Marlis Schaum2. Juli 2012

Literaturtipps für alle, die den Dingen gerne auf den Grund gehen. Diesmal reißt eine Französin Mauern ein, ein Fremder durchbricht die Dorfidylle, und Mode zeigt, dass sie mehr ist als eine oberflächliche Erscheinung.

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Verschiedene Bücher übereinander gestapelt (Foto: Mike Wolff)
Bild: picture-alliance/Tagesspiegel

Manchmal kann man netterweise nicht aus seiner Haut. Da greift man mit sicherem Gespür nach dem, von dem man weiß, man wird es lieben. Mehrgenerationenromane zum Beispiel, mein literarisches Steckenpferd, könnte man sagen. Am besten vermischt mit jüngerer Zeitgeschichte und erzählt aus verschiedenen Perspektiven - in diesem Fall aus denen dreier Frauen einer Familie in der Normandie.

Der Ballast des Lebens

Im Mittelpunkt von "Was Ida sagt" steht Louise, Ende 20. Elf Jahre hat sie in Berlin gelebt und kehrt jetzt, 1989 zum ersten Mal wieder nach Frankreich zurück, um bei der Beerdigung ihrer Großtante dabei zu sein. Der Mauerfall, der sich im europäischen Hintergrund zusammen braucht, spielt vordergründig keine Rolle, ist aber Symbol für alles, was nach der Beerdigung in Louises Leben passieren wird: Sie wird viele Mauern einreißen, die die einzelnen Familienmitglieder über die Jahre um sich herum hochgezogen haben. Eine wichtige Rolle spielt dabei Ida.

Buchcover "Was Ida sagt" von Odile Kennel (Foto: dtv)
Bild: dtv

"Ich bin Ida (…). Die Cousine deiner Mutter, deine Großcousine oder Tante zweiten Grades. Sie schien sich über die Mathematik der Verwandtschaftsverhältnisse zu amüsieren und fügte mit einem Blick auf Louises fast rasierten Schädel hinzu, ich muss zugeben, dir steht das wirklich gut. Es gab keinen Grund, sich vor einer Person, die sie nicht kannte, zu rechtfertigen, es gab überhaupt keinen Grund sich zu rechtfertigen, und doch hätte Louise Ida gerne erklärt, dass ihr Haarschnitt ein Selbstversuch gewesen war, dass sie nicht die Absicht hatte, jemanden zu provozieren. Und sie hätte fragen wollen: Wie kommt es, dass du Deutsch sprichst? – da wandte sich Paulette, die vorne am Grab stand, zu ihnen um."

Paulette ist Louises Mutter, beide haben sich elf Jahre lang nicht gesprochen und der emotionale Ballast, der an dieser Mutter-Tochter-Beziehung und der ganzen Familie hängt, hat vor allem mit der deutsch-französischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu tun. Vor allem aber damit, dass man selten weiß, warum ein Mensch sich verhält wie er sich verhält, wenn man nicht weiß, welche Erlebnisse ihn dazu gebracht haben.

Totenklage ohne Gefühlsduselei

Um ein Mutter-Tochter-Verhältnis geht es auch in Joan Didions "Blaue Stunden". Ein Buch, in dem die amerikanische Schriftstellerin und Journalistin sich an ihre Tochter Quintana erinnert, die 2005 mit nur 39 Jahren starb. Ein intensives Selbstgespräch, an dem Didion ihre Leser teilhaben lässt und sich selbst nicht schont: eine Totenklage, präzise geschrieben, ohne Gefühlsduselei und doch sehr poetisch.

Sie blickt zurück auf das Kind Quintana, das sie und ihr Mann überall mit hingenommen haben: zu ihren Lesungen und Aufführungen ihrer Theaterstücke - das Kind eines schreibenden Paares, das viel Zeit in Hotels verbringt und sich schon früh sehr erwachsen benimmt. Joan Didion geht dabei auch mit sich ins Gericht und fragt sich, ob sie dieses Kind überfordert habe.

Buchcover "Blaue Stunden" von Joan Didion (Foto: Ullstein)
Bild: ullsteinbuchverlage

Der Titel verweist auf ein Naturphänomen, die blauen Stunden, die es nur in bestimmten Breitengraden und nur wenige Wochen vor der Sommersonnenwende gibt: Die Dämmerung wird lang und blau. "Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden", so Joan Didion. Aber sie künden auch vom Ende des Sommers: "Blaue Stunden sind das Gegenteil sterbenden Glanzes, aber sie sind auch seine Vorboten".

Grusel im Bergdorf

Trauerarbeit kann auch ganz andere Folgen haben, sehr radikale Folgen, wenn man sich wieder im Reich der Fiktion bewegt. Thomas Willmann hat ein Buch geschrieben, in dem Liebe, Hass, Schuld und Vergeltung radikal in Szene gesetzt werden: "Das finstere Tal".

So finster wie der Titel dieser Mischung aus Krimi, Western und Bergroman, so düster die Geschichte, die etwa Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist. Ein Fremder platzt in ein abgeschiedenes, süddeutsches Bergdorf und wird sehr misstrauisch empfangen. Aus gutem Grund, denn der Fremde ist bewusst in diese Welt eingedrungen um eine Welle von Tod und Gewalt loszutreten, die das abgeschiedene Dorf bis ins Mark erschüttern wird. Langsam und mit stoischer Ruhe arbeitet Willmann auf den Höhepunkt der Geschichte hin, der einen aufschreckt und zusammen zucken lässt. Die Hörbuchfassung ist dank Schauspieler Matthias Brandt fast der größere Genuss, als die Selbstlese-Variante. Seine leise, fast zärtliche Stimme, macht den Grusel perfekt.

CD Cover "Das finstere Tal" von Thomas Willmann (Foto: Hörbuch Hamburg)
Bild: Hörbuch Hamburg

Stil für die Sinne

Wer danach etwas zur Beruhigung sucht, sollte zu "Frauen mit Stil" greifen. Eins der so genannten "Coffee-Table-Books": Bücher, die auch beim Rumliegen gut aussehen, nach denen man zwischendurch mal greifen kann, um sich darin für wenige Minuten oder länger zu vertiefen.

Gertrud Lehnert erzählt darin eine "glückliche Geschichte der Mode" vom 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie ist Professorin an der Uni Potsdam, einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Theorie und Geschichte der Mode. Deshalb ist "Frauen mit Stil" nicht nur ein schönes Bilderbuch, in dem die verschiedenen Facetten des Themas mit zeitgenössischer Kunst bebildert sind, sondern es vermittelt auch fundiert Modegeschichte:

Buchcover "Frauen mit Stil" von Gertrud Lehnert (Foto: Elisabeth Sandmann Verlag)
Bild: Elisabeth Sandmann Verlag

"Mode ist tatsächlich keine frivole Oberflächlichkeit, mit der sich nur befasst, wer nichts Besseres zu tun hat – Mode ist wesentlicher Teil unserer täglichen Selbstgestaltung und somit zutiefst mit unserer individuellen und kulturellen Identität verwoben. Deswegen verrät sie uns viel über das Leben der Menschen früherer Zeiten."

Wer das Thema vertiefen möchte, sollte zu einem aktuellen wissenschaftlichen Sammelband greifen, den Gertrud Lehnert ebenfalls kürzlich herausgegeben hat. In „Räume der Mode“ dreht sich alles um die Räume, in denen Mode produziert und vorgeführt wird, um die Räumlichkeit von Kleidung und wie Mode das Verhalten von Menschen in Räumen beeinflusst. Wer sich noch nie intensiver mit Modegeschichte befasst hat, wird überrascht sein, wie tiefgründig etwas sein kann, das auf den ersten Blick so oberflächlich erscheint.

Buchcover "Räume der Mode" von Gertrud Lehnert (Hrsg.) (Foto: Wilhelm Fink Verlag)
Bild: Wilhelm Fink

Odile Kennel: "Was Ida sagt", dtv Verlag, 320 Seiten, ISBN 978-3-423-24896-9, 14,90 Euro.

Joan Didion: "Blaue Stunden", Ullstein Verlag, 208 Seiten, ISBN 978-3-550-08886-5, 18,50 Euro.

Thomas Willmann: "Das finstere Tal", gelesen von Matthias Brandt, Hörbuch Hamburg, ca. 467 Minuten, 6 CD, ISBN 978-3-89903-348-9, 19,99 Euro.

Gertrud Lehnert: "Frauen mit Stil. Modeträume aus drei Jahrhunderten", Elisabeth Sandmann Verlag, 160 Seiten, ISBN 978-3-938045-65-7, 24,95 Euro.

Gertrud Lehnert (Hrsg.): "Räume der Mode", Wilhelm Fink Verlag, 310 Seiten, ISBN: 978-3-7705-5200-9, 39,90 Euro