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Interview Nemtsov

25. November 2011

Er ist Konzertpianist, Musikwissenschaftler, Autor und Experte für russische Musik. Besonders aber kümmert er sich um jüdische Komponisten, die verfolgt und deren Werke vergessen wurden. Ein Gespräch mit Jascha Nemtsov.

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Jascha Nemtsov Copyright: Susanne Krauss
Jascha NemtsovBild: Susanne Krauss

Deutsche Welle: Wie viel persönliche Geschichte haben Sie im Gepäck gehabt, als Sie 1992 nach Deutschland gekommen sind?

Jascha Nemtsov: Ich wurde in Magadan, in Sibirien geboren. Eine Stadt, in die eigentlich niemand freiwillig kommt. Es war die inoffizielle Hauptstadt des Gulag, des sowjetischen Lagersystems. Mein Vater hat 27 Jahre dort verbracht. Zuerst zehn Jahre als Häftling und dann den Rest als Freiwilliger, weil er zunächst gar keine andere Wahl hatte. Denn nachdem er seine Frist abgesessen hatte, wurde ihm verboten, überhaupt zurück zu kommen in andere Städte. Er musste also dort bleiben. Ich bin dort im Fernen Osten der damaligen Sowjetunion geboren, aber aufgewachsen bin ich dann in St. Petersburg, damals noch Leningrad. Das ist meine eigentliche Heimatstadt. Es waren also verschiedene geographische Orte, die mich geprägt haben.

Konnten Sie in Petersburg damals ein jüdisches Leben führen?

In der Familie auf alle Fälle. Meine Eltern kommen beide aus ganz traditionellen, jüdischen Familien. Beide sind in Weißrussland geboren, besonders mein Vater hat noch eine absolut traditionelle Erziehung bekommen. Jiddisch war für beide Elternteile die Muttersprache. Und natürlich wurden jüdische Traditionen und Werte in der Familie weiter vermittelt. Dabei muss man aber allerdings berücksichtigen, dass die Verhältnisse in der Sowjetunion alles andere als judenfreundlich waren. Auch meine Eltern befürchteten, dass meine Schwester und ich unsere jüdische Identität zu sehr verinnerlichen würden. Wir wurden überhaupt nicht religiös erzogen, obwohl mein Vater selbst regelmäßig in die Synagoge ging. Man hatte einfach Angst, dass wir es schwer haben, Nachteile erleiden würden. Erst später, in der Perestroikazeit, habe ich mich in die jüdische Geschichte vertieft. Aber erst nachdem ich nach Deutschland gekommen bin, ist es auch Teil meiner beruflichen Existenz geworden.

Am Flügel: Jascha Nemtsov Copyright: Susanne Krauss
Am Flügel: Jascha NemtsovBild: Susanne Krauss

Sie haben als Jude in Russland gelebt. Welche Beziehung haben Sie denn zur deutschen Sprache?

Deutsch habe ich sehr lange autodidaktisch gelernt in Russland. Einfach, weil ich eine Fremdsprache lernen wollte. Das war ein bisschen der Hauch von einer anderen Welt. Einer fremden Welt, zu der man gar keinen Kontakt hatte. Eine Welt, die mich aber trotzdem sehr faszinierte. Als Student durfte ich einmal in die DDR fahren. Das war so ein Austauschprogramm mit der Dresdner Musikhochschule. Ich habe mich einfach in die Stadt verliebt. Und das war noch eine zusätzliche Motivation. Nach dem Studium war ich anderthalb Jahre beim Militär und die deutsche Sprache war für mich in dieser Zeit so eine Art Freiraum, den ich mir geschaffen habe. In meiner Freizeit habe ich sehr intensiv Deutsch gelernt - mit Wörterbuch und mit Texten. Inzwischen ist Deutsch zu meiner zweiten Muttersprache geworden. Ich lebe in der deutschen Sprache. Deutsch ist die Sprache meiner Frau und unserer Kinder. Deutsche Kultur und deutsche Geschichte sind Teil meines Lebens geworden.

Sie sind Pianist und Musikwissenschaftler und beschäftigen sich auch seit einigen Jahren mit vergessenen, jüdischen Komponisten, vor allem aus Russland. Was und wen gab und gibt es da zu entdecken? Und warum sollte man diese Komponisten heute wieder spielen, hören und veröffentlichen?

Es ist ein ganz faszinierender Teil der Kultur - der jüdischen, der deutschen, der russischen, der europäischen, ja der Weltkultur. Aber viele dieser Komponisten sind heute vergessen. Und ich sehe das als meine Aufgabe, genau diesen verlorenen Teil der Kultur wieder zu gewinnen, den Menschen zurückzubringen. Ich nenne nur einige Namen: Arthur Lourie, Joseph Achron, Jakob Schönberg. Anfang des 20.Jahrhunderts entwickelte sich in Russland eine ganz eigene Musikkultur, die die „Neue jüdische Schule“ genannt wurde.

Wie muss man sich Ihre Arbeit konkret vorstellen? Suchen Sie in Archiven nach Notenblättern oder nach Manuskripten?

Ich suche nicht immer gezielt. Weil es natürlich sehr schwierig ist, etwas zu suchen, von dem man gar nicht weiß, wo es sich befindet. Einen solchen Fall habe ich gerade mit dem Komponisten Jakob Schönberg erlebt. Ich hatte schon vor längerer Zeit seinen Namen in der jüdischen Presse der 1930er Jahre gelesen. Dort war er Konzertkritiker, aber es gab auch Artikel über seine Werke. Darin wurde er als hochbegabter und sehr origineller Komponist gelobt. Da wurde ich natürlich neugierig und habe in verschiedenen Archiven nachgeforscht. Letztlich fand ich seinen Nachlass verstreut in vier verschiedenen Sammlungen in New York. Ich habe unter großen Schwierigkeiten Kopien bekommen, habe Aufführungsmaterial herstellt lassen – alles unglaublich mühsam und arbeitsintensiv. Aber: Anfang 2011 haben wir weltweit die erste CD-Aufnahme mit Werken von Jakob Schönberg gemacht.

Das Gespräch führte Cornelia Rabitz

Redaktion: Sabine Oelze