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Auf in den Westen

6. November 2009

Zu Sowjetzeiten prosperierte das südosteuropäische Land Moldawien. Jetzt verlassen immer mehr Menschen das kleine Land, um der Armut zu entkommen.

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Grau und karg - das Hinterland in Moldawien (Foto: DW/Kathrin Erdmann)
Grau und trist - das Hinterland in MoldawienBild: Kathrin Erdmann

Mit verschränkten Armen und im traditionellen Gewand singen fünf junge Moldawier Heimatlieder. Die Mädchen tragen Oberteile mit Puffärmeln und Stickereien, der einzige Junge steht im Anzug vor den Gästen. Alle wohnen in Butuceni, einem kleinen verlassenen Ort nordöstlich von Moldawiens Hauptstadt Chisinau. Die Menschen leben hier mehr schlecht als recht von der Landwirtschaft. Tourismus gibt es kaum. Die Gegend ist verlassen und öde. Ähnlich ist es in Costesti, einem 12.000 Einwohner großen Dorf, etwa 35 Kilometer südlich der Hauptstadt. Die Straßen sind unbefestigt, die Häuser verlassen oder heruntergekommen.

Sehnsucht nach der Ferne

Eingang zum Lyzeum in Costesti (Foto: DW/Kathrin Erdmann)
Eingang zum Gymnasium in CostestiBild: Kathrin Erdmann

In der Abiturklasse eines Gymnasiums sitzen 25 Schüler und Schülerinnen. Aufmerksam folgen sie dem Unterricht. Auf die Frage, wer nach der Schule ins Ausland gehen möchte, schnellen fast alle Hände nach oben. Auch die 17-jährige Docina hat ihre Hand gehoben. "Ich will studieren und dann im Ausland arbeiten, wenn es geht", erzählt sie. Andere Länder möchte sie kennen lernen, fremde Kulturen entdecken. Ihre Mitschülerin Christina, eine hübsches schlankes Mädchen mit langem hellbraunen Haar und großen Augen, träumt von einer Karriere als Designerin.

Wohin sie und ihre drei Freundinnen gehen wollen, wissen sie nicht. Vielleicht nach Russland, nach Spanien, Italien oder auch in die USA. Wie dort die Arbeitsbedingungen sind, wissen sie nicht so genau. Nur, dass es dort besser sein muss als in Moldawien, da sind sie sich ganz sicher. Schließlich ist doch eines ihrer Elternteile auch im Ausland tätig. Meistens sind es die Mütter, die anderswo ihr Geld verdienen. "Wir telefonieren regelmäßig und einmal im Jahr kommt meine Mutter zu Besuch", hört man hier oft. Eine berufliche Zukunft sehen sie in ihrer Heimat nicht, was bei einem derzeitigen Monatslohn von rund 140 Euro verständlich ist. Dazu sei Moldawien zu arm, sagen sie übereinstimmend. Nur aus der Ferne, wenn sie auswandern, so glauben die Mädchen, können sie ihr Land voranbringen.

Fußballplatz vor einer Schule in Costesti (Foto: DW/Kathrin Erdmann)
Fußballplatz vor einer Schule in CostestiBild: Kathrin Erdmann

Damit haben die jungen Mädchen nicht einmal Unrecht. Die Migration ist längst zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor Moldawiens geworden. Im vergangenen Jahr haben Auswanderer zwei Milliarden Dollar in die Heimat überwiesen, berichtet die Internationale Organisation für Migration. Das war nach ihren Angaben mehr als der gesamte Staatshaushalt. Ein Viertel der insgesamt vier Millionen Einwohner hat Moldawien bereits verlassen. Viele Kinder wachsen dauerhaft nur noch mit einem Elternteil auf. Oft bleiben Väter zurück, die mit der Situation überfordert sind, ihren Kummer wegtrinken, berichtet ein langjähriger Beobachter des Landes. An Familienleben sei nicht mehr zu denken.

Mütter gehen mit ihren Kindern

Auf der Suche nach Wohlstand sind vor allem allein erziehende Mütter leichte Beute für Menschenhändler. Zwar sind die Opferzahlen in den vergangenen drei Jahren von 507 auf 151 zurückgegangen, aber das Problem sei noch immer vorhanden, berichtet Elena Mereacre. Die frühere Bibliothekarin hat in Costesti vor acht Jahren die Organisation "Compasiune", zu Deutsch: Mitgefühl, gegründet. Sie hat unter anderem ein Kinderzentrum aufgebaut, in dem die Jungs und Mädchen landen, denen es im Ausland nicht so gut ergangen ist.

Unruhig sitzen sie um einen Tisch herum, malen mit bunten Filzstiften Bilder aus, ihre Augen blicken ins Leere, eine kindliche Fröhlichkeit sucht man bei vielen hier vergebens. "Wir haben bei uns zwölf Kinder, die gemeinsam mit ihren Müttern in Polen, Russland und in der Ukraine Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Sie mussten von morgens bis abends auf der Straße betteln und durften nichts von dem Geld behalten."

Elena Mereacre, Gründerin der NGO Compasiune (Foto: DW/Kathrin Erdmann)
Elena Mereacre, Gründerin der NGO CompasiuneBild: Kathrin Erdmann

"Kommen sie zurück", erzählt Elena Mereacre, "sind die Kinder psychisch und physisch oft am Ende". Manchmal kommt es auch vor, dass Frauen auswandern und dann mit einem oder zwei Kindern in ihr Heimatdorf zurückkehren – das unerwünschte "Nebenprodukt" jahrelanger Prostitution. Wieder im Dorf, haben es diese Kinder und Frauen schwer. Viele Beziehungen gehen kaputt, die Ehemänner wollen nicht, dass das Dorf die Wahrheit über den Auslandsaufenthalt erfährt. Elena Mereacre, deren Nichtregierungsorganisation sich jahrelang auch durch Gelder aus Deutschland getragen hat, kümmert sich um die Kinder und bietet Näh- und Kochkurse für die Frauen an. Im kleinen Rahmen versucht sie ihnen wieder eine Perspektive und vor allem ein Leben in Würde zu ermöglichen.

Täter haben dazu gelernt

Ob es tatsächlich weniger Opfer von Menschenhandel gibt, ist derweil fraglich. Martin Wintersberger, der zur Europäischen Grenzkontrollkommission Eubam gehört, will eine gewisse Sättigung am Markt nicht ausschließen. Hauptzielländer von Menschenhändlern waren in den vergangenen Jahren die Türkei, Russland und Saudi-Arabien. Allerdings, berichten immer wieder Experten, dass die Täter dazugelernt hätten. Auch wenn die Opfer unter schwierigen Bedingungen im Ausland leben und arbeiten, inzwischen haben sie oft mehr Rechte als früher. Sie dürfen Geld nach Hause schicken und mit ihren Verwandten telefonieren.

Lidia Gorceag, Psychologin (Foto: DW/Kathrin Erdmann)
Lidia Gorceag, PsychologinBild: Kathrin Erdmann

Plötzlich, so hat Lidia Gorceag die Erfahrung gemacht, mutiert der Menschenhändler für sein Opfer zu einem fast netten Kerl. Gorceag arbeitet als Psychologin in einem Rehabilitationszentrum für Krisenfälle. "Wenn eine Frau, die aus totaler Armut kommt, plötzlich in einem schönen Hotel lebt, immer einen vollen Kühlschrank, heißes Wasser und schöne Bettwäsche hat, dann verstellt das schon mal den Blick für die Realität", beschreibt Gorceag die Tatsachen. Es kommt zum Stockholm Syndrom, bei dem das Opfer Sympathien für den Täter entwickelt. Erst kürzlich habe sie einen solchen Fall gehabt. Es habe zwei Monate Überzeugungsarbeit gebraucht, bis die Frau der Wahrheit ins Auge gesehen habe.

Damit sich Frauen gar nicht erst in eine solche Situation begeben, muss in Moldawien vor allem die Armut bekämpft werden. Diese zu beseitigen wird eine der zentralen Herausforderungen der künftigen liberal-demokratischen Regierung sein.

Autor: Kathrin Erdman
Redaktion: Irene Quaile