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Auch Deutsche unter den Opfern

15. Juli 2010

Benjamin von Stuckrad-Barres Gesellschaftsreportagen halten Deutschland den Spiegel vor. Ein Buch, das mehr über die Stimmung in diesem Land sagt als die meisten Polit-Barometer.

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Der Autor und Journalist Benjamin von Stuckrad-Barre 2010 bei der Talkshow 'Kölner Treff' (Foto: dpa)
Benjamin von Stuckrad-BarreBild: picture alliance / dpa

Deutschland im Herbst 2009. Es ist Wahlkampf. Benjamin von Stuckrad-Barre begleitet die Kanzlerin auf einer Zugfahrt quer durch Deutschland. Er bekommt fünf Minuten Zeit für ein Interview mit ihr. Die meisten Journalisten hätten jetzt politische Fragen gestellt. Stuckrad-Barre fragt, wie die Thüringer Wurst geschmeckt hat, die Angela Merkel kurz zuvor bei einem Halt in Erfurt öffentlich und unter Applaus verspeist hat. "Ging so." Im weiteren Gespräch geht es um die Sehnsuchtslandschaft der Kanzlerin. "Mehr so Grundmoräne." Um ihre Lieblingsjahreszeit: Keine Antwort. Und um die Frage, ob sie im Zugrestaurant Erbsen- oder Gulaschsuppe gewählt hat. "Ich habe mich für die Erbsensuppe entschieden."

Die Szene stammt aus Stuckrad-Barres neuem Buch "Auch Deutsche unter den Opfern". Und sie ist typisch für Stuckrad-Barres Gesellschaftsreportagen. Jedes Mal, wenn Angela Merkel auf die üblichen Politikerfloskeln umschwenkt, wechselt Stuckrad-Barre das Thema. So entzieht er sich dem eigentlichen Zweck der Zugfahrt: dem Wahlkampf.

Der lose Knopf der Kanzlerin

Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, fotografiert am 7.Oktober 1998 auf der Frankfurter Buchmesse (Foto: AP)
1998: der Popstar der Literatur auf der Frankfurter BuchmesseBild: AP

Bekannt wurde Stuckrad-Barre 1998 mit seinem Romandebüt "Soloalbum". Er war einer der ersten Popstars der deutschen Literatur, moderierte eine eigene Literatursendung bei dem Musiksender MTV, seine Lesungen hatten etwas von Popkonzerten. Wie fast jeder echte Popstar hatte er nach einer Weile Probleme mit Drogen. Nach einigen Jahren im Ausland schreibt er heute für Zeitungen wie "Die Welt" oder das Musikmagazin "Rolling Stone".

Als Journalist hat er einen ganz eigenen Reportagestil entwickelt. Fast nie mischt er sich in das Geschehen ein. Meist schaut und hört er zu, wenn er mit der Kanzlerin im Rheingoldexpress unterwegs ist oder frierend am roten Teppich auf den Schauspieler Tom Cruise wartet. Stuckrad-Barre beobachtet sehr genau. Er sieht den losen Knopf am Jackett der Kanzlerin und hat ein Ohr für das kurze Gespräch zwischen Peter Struck und einem Autogrammjäger im Willy-Brandt-Haus am Wahlabend 2009.

Vor fast zehn Jahren hat Stuckrad-Barre schon einmal einen Band mit seinen Gesellschaftsreportagen veröffentlicht. "Deutsches Theater" hieß das Buch. "Auch Deutsche unter den Opfern" könnte so heißen. Denn Stuckrad-Barres Beobachterposition deckt Öffentlichkeit und Politik als Inszenierung auf. Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, spielt Theater. Wenn die Kanzlerin in Erfurt ihre Thüringer Wurst isst, dann tut sie das nicht, weil sie Hunger hat, sondern um sich volksnah zu geben. Deshalb antwortet SPD-Kanzlerkandidat Frank Walter Steinmeier auf die Frage nach seinem Lieblingsbier auch, er trinke die regionalen Biere seiner bisherigen Wohnorte besonders gern. Stuckrad-Barre kommentiert das: "Mit anderen Worten, er ist bundesweit wählbar."

Öffentlichkeit als Show

Buchcover Benjamin von Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern (Kiepenheuer & Witsch)

Die Einsicht, dass öffentliche Auftritte selten spontan, sondern sorgfältig inszeniert sind, ist nicht neu. Aber niemand setzt diese Inszenierungen selbst wieder so wunderbar in Szene wie Stuckrad-Barre. Lakonisch, unaufgeregt und mit einer klugen Ironie.

"Auch Deutsche unter den Opfern" – der Titel des Buches ist eine Art Standardfloskel aus dem Katastrophenjournalismus. Scheinbar wird ein Unglück schlimmer, wenn Deutsche unter den Opfern sind. Das ist, wenn man so will, Medienzynismus. Man muss schon etwas bieten, um öffentlich wahrgenommen zu werden. Stuckrad-Barre lässt sich darauf nicht ein. Er interessiert sich für die kleinen Ereignisse am Rande. So im Willy-Brandt-Haus, Berlin. Die SPD wartet am Wahlabend 2009 auf die Ergebnisse. Ein Mann übergibt sich an einem Bierstand. Niemand bemerkt das Malheur. Und jeder tritt hinein. Stuckrad-Barre steht abseits, beobachtet und beschreibt. Wie er das macht, ist großes Kino.


Rezensent: Udo Marquardt
Redaktion: Gabriela Schaaf


Benjamin von Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern. Kiepenheuer & Witsch Verlag. ISBN 978-3-462-04224-5. 336 Seiten. 14,95 Euro.