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Politik

Atomunfall in Russland vertuscht?

Mikhail Bushuev | Irina Filatova mo
23. November 2017

Experten glauben, die Quelle für den radioaktiven Fallout in Russland Ende September gefunden zu haben. Die Daten deuten auf ein Unternehmen im Südural hin. Doch das weist - wieder einmal - jede Verantwortung zurück.

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Anti-Atomkraft
Bild: Fotolia/lassedesignen

Als Erste stellten die zuständigen Dienste in Deutschland und Frankreich Ende September radioaktives Ruthenium-106 in der Atmosphäre fest. Das Bundesamt für Strahlenschutz informierte darüber die russischen Behörden. Doch eine Antwort erhielten sie nicht, wie die DW vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit erfuhr. Das französische Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN) schätzt, dass zwischen 100 und 300 Terabecquerel Ruthenium-106 freigesetzt wurden - einen Menge, die zumindest für die lokale Bevölkerung als bedenklich eingestuft wird.

Erst am 21. November berichtete der russische meteorologische Dienst "Roshydromet", dass es in mehreren russischen Regionen, vor allem im südlichen Ural, zu einem starken Anstieg von Ruthenium in der Atmosphäre gekommen sei. Dem Kreml zufolge hat aber bislang keine einzige russische Behörde einen Unfall gemeldet, bei dem Radioaktivität freigesetzt wurde.

Quelle lokalisiert

Raschid Alimow von "Greenpeace Russia" erläuterte im Gespräch mit der DW, es könne mit Sicherheit gesagt werden, dass das Ruthenium-106 nicht durch einen Unfall in einem Kernreaktor freigesetzt wurde. Denn dann wären nicht nur Ruthenium-106, sondern auch andere radioaktive Elemente in die Atmosphäre gelangt. Es müsse daher von einem anderen Strahlenunfall ausgegangen werden, zum Beispiel bei der Entsorgung von Atommüll.

Karte Russland Majak DEU
Vermutlich stammt das gemessene Ruthenium-106 aus der Wiederaufbereitungsanlage "Majak"

Aufgrund der Daten der europäischen Dienste und der russischen Meteorologen kann die mögliche Quelle des Rutheniums-106 recht genau lokalisiert werden. Demnach befindet sie sich im Südural, im Dorf Argajasch, in der Region Tscheljabinsk. Gerade dort wurde eine "extrem hohe Belastung" festgestellt, die die Werte der Vormonate um das 986-fache übertrafen. In der Nähe gibt es ein Unternehmen, das Atomwaffen-Komponenten herstellt und Kernbrennstoffe wiederaufbereitet. Es ist die kerntechnische Anlage "Majak", die Teil der russischen Agentur für Atomenergie "Rosatom" ist. Die Behörde teilte auf Anfrage der DW mit, in ihren Einrichtungen habe es keine Zwischenfälle gegeben, bei denen radioaktive Stoffe freigesetzt wurden.

"Ursache zu 99 Prozent klar"

Nadeschda Kutepowa, ehemalige Leiterin der russischen Umweltschutzorganisation "Der Planet der Hoffnung", sagte der DW, die Ursache für die Freisetzung von Ruthenium-106 sei zu "99 Prozent" klar. Die Menschenrechtlerin beobachtete über viele Jahre die Anlage Majak und berichtete über dortige Umweltprobleme. Seit 2015 lebt sie in Frankreich, wo sie nach Übergriffen in Russland politisches Asyl erhielt.

Die Expertin vermutet, dass das Ruthenium-106 zwischen dem 25. und 26. September 2017 freigesetzt wurde, und zwar in einer Verglasungsanlage, wo hochradioaktive Abfälle aus der Wiederaufarbeitung in einem Ofen in eine auslaufresistente Glasmatrix eingebunden werden. Majak erklärte am 21. November, gar kein Ruthenium zu produzieren und nicht die Quelle des in der Luft gemessenen radioaktiven Elements gewesen zu sein. "Sie produzieren kein Ruthenium-106. Aber es entsteht beim Betrieb der Verglasungsanlage", kontert Kutepowa.

Russland Behälter für den Urantransport
Behälter für den Transport von Uran in der kerntechnischen Anlage "Majak"Bild: Imago/Itar-Tass

Der Aktivistin zufolge erhielt Majak an jenen Tagen, an denen das Ruthenium in der Atmosphäre gemessen wurde, erstmals Behälter eines neuen Typs sowie neuen radioaktiven Brennstoff zur Verarbeitung. Kutepowa meint, dass beim Betrieb eines neuen Ofens Probleme aufgetreten seien. Majak habe im Jahr 2015 einen Vertrag über die Lieferung eines neuen Ofens mit einem insolventen Unternehmen geschlossen. Der Ofen sei aufgebaut worden, als das Personal des Herstellers schon entlassen war. Ferner sei unklar, ob der Ofen überhaupt unter Aufsicht der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) in Betrieb genommen wurde. Kutepowa ist überzeugt, dass Ruthenium-106, wie jede Freisetzung von radioaktiven Stoffen, für den Menschen schädlich ist.

Unzureichende Informationen

Majak ist die älteste sowjetische Anlage zur Verarbeitung radioaktiver Stoffe. Sie ist bekannt für viele verschwiegene Unfälle. Die Serie von Unglücken habe mit einer Explosion im Jahr 1957 begonnen und übertreffe insgesamt sogar die Katastrophe von Tschernobyl, was die Freisetzung von Radionukliden in die Atmosphäre angehe, sagt Anna Vero Wendland. Sie ist Expertin für sogenannte geschlossene Städte in Osteuropa, in denen sich Atomanlagen befinden. Die Wahrheit über die Tragödie von 1957 wurde - und das nur teilweise - erst in der Zeit von Gorbatschows Glasnost bekannt. Und auch jetzt, betont Wendland im Gespräch mit der DW, gebe es über die Freisetzung des Rutheniums-106 im Südural zu wenige Informationen.

Den Mangel an Informationen beklagt auch "Greenpeace Russia": "Die Tatsache, dass Ruthenium gemessen wurde, ist ein Anzeichen dafür, dass es irgendwo eine unbeabsichtigte Freisetzung gab. Unfälle müssen untersucht werden", sagt der Greenpeace-Experte Raschid Alimow. Die Umweltorganisation fordert die russische Staatsanwaltschaft auf, einer möglichen Vertuschung eines Strahlenunfalls nachzugehen. Ferner müsse geklärt werden, ob das System zur Überwachung von Radionukliden in der Atmosphäre überhaupt in der Lage sei, Vorfälle festzustellen. "Wenn die Quelle der Verschmutzung nicht identifiziert werden kann, stellt sich die Frage, ob überhaupt auf Strahlenunfälle reagiert werden kann", so Alimow.

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