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Politik

"Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe"

11. März 2018

Sie ist Anwältin, Frauenrechtlerin und Muslima - und ein Feindbild vieler konservativer islamischer Männer. Seyran Ates spricht im DW-Interview über einen Kampf, der sie fast das Leben gekostet hätte.

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Seyran Ates, Autorin und Juristin
Bild: DW

Seyran Ates: "Es sollte sein, dass ich überlebe"

Seyran Ates bekommt Morddrohungen und steht seit Jahren unter Personenschutz. Die Anwältin und Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin sagt im DW-Interview, die Menschen, die sie bedrohten, "wollen keine Erneuerung des Islam und akzeptieren keine zeitgemäße Lesart des Koran". In der von ihr gegründeten Moschee gibt es keine Geschlechtertrennung, Frauen und Männer können dort gemeinsam beten.   

Wegen ihrer Arbeit als Frauenrechtlerin wurde Seyran Ates fast ermordet: Als sie 1984 in einer Beratungsstelle für türkische Frauen in Deutschland mit einer Klientin sprach, stürmte ein Mann in den Raum, tötete diese und schoss auch Seyran Ates an. "Ich hatte eine Steckschussverletzung im Hals. (...) Das ist ein Wunder, dass ich überlebt habe", erinnert sich Seyran Ates. "Ein Mann hat mich töten wollen und eine Frau ist getötet worden, weil ich mich für Frauenrechte einsetze. Ich will einfach nur, dass Männer und Frauen nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Gesellschaft gleichberechtigt sind. Und dafür sind einige Männer und Frauen in dieser Welt nach wie vor leider bereit, Menschen zu töten."

Deutschland Eröffnung liberale Moschee in Berlin
Seyran Ates bei der Eröffnung der liberalen Moschee in Berlin im Juni 2017 Bild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

"Nicht gegen den Islam, sondern gegen das Patriarchat" 

Die Wut habe sie dazu bewogen, trotz allem weiterzumachen: "Jetzt erst recht!" Sie kämpft für Gleichberechtigung, "also nichts Schlimmes, sondern etwas Selbstverständliches. Für mich erst recht, und für unsere Kinder, für die Zukunft der Generationen. Und ich schöpfe auch Kraft aus diesem Nahtoderlebnis, indem ich sage: Es sollte sein, dass ich überlebe. Und ich glaube an Gott, den lieben, barmherzigen Gott. Ich glaube daran, dass ich leben sollte, damit ich diesen Kampf führe." 

Sie kämpfe "nicht gegen den Islam, sondern gegen das Patriarchat", denn dieses unterdrücke und diskriminiere Frauen, unterstreicht Seyran Ates im DW-Interview. Migranten aus der Türkei und verschiedenen muslimischen Ländern seien meist konservativer als die Mehrheit in den Herkunftsländern, Migration mache Menschen grundsätzlich konservativer.

Auf die Frage, ob das Grundgesetz in manchen muslimischen Familien in Deutschland denn nicht gelte, antwortet Ates: "Es gibt, leider Gottes, in Deutschland, in Europa, Parallelgesellschaften von Menschen aus der Türkei oder aus dem muslimischen Kulturkreis, die der Ansicht sind, das deutsche oder europäische Recht gilt nicht für sie. Ihre Werte sind die Werte der Scharia. Also nicht nur die rituellen Anteile der Scharia, sondern auch die gesetzlichen. Und die Demokratie ist etwas, was sie nicht akzeptieren." Trotzdem meine die Politik, in einem offenen Land müssten "alle Ansichten vertreten sein": "Da funktioniert Integrationspolitik nicht, beziehungsweise ganz falsch", sagt Ates. Sie vertritt das Prinzip: "Keine Toleranz für die Feinde der Toleranz".

Gemischte Reaktionen auf liberale Moschee in Berlin

"Vermitteln, dass die Grundrechte gelten"   

Seyran Ates kritisiert den Umgang mit Ehrenmorden in Deutschland. Oft werde behauptet, "das sind ja Eifersuchtsfälle, oder es sind Dinge wie häusliche Gewalt, die auch bei Deutschen vorkommen". Doch es werde übersehen, dass es sich dabei oft um Brüder und andere Verwandte handele, die Gewalt gegen die Schwester ausüben. "Da guckt man weg, weil es ja nur wenige Menschen aus dem Migrationsmilieu betrifft. Ich denke, das ist politisch nicht so spannend, weil es politisch nicht so ein großes Thema ist." Der Staat könnte viel mehr tun mit einer guten Bildungs- und Integrationspolitik. "Das hätte schon vor 40 Jahren beginnen müssen." Man müsse vermitteln, "dass die Grundrechte gelten". Sie beobachte, "dass die allermeisten Migranten, die sich in Parallelgesellschaften oder Gegengesellschaften zusammentun, gar nicht wissen, was das Grundgesetz eigentlich bedeutet. Was bedeuten eigentlich die europäischen oder die deutsche Werte, von denen oft gesprochen wird?"  

Die Hass-Mails, die Seyran Ates erreichen, kommen von "sogenannten einfachen Konservativen", nicht von Extremisten wie den Anhängern des Islamischen Staats. "Daran sehen wir, dass wir ein gesamtgesellschaftliches Problem haben", sagt Ates, "mit dem Weltbild derer, die Angst haben, ihre Identität aufgeben zu müssen, wenn wir über europäische Werte, über Menschenrechte sprechen."

das/rb (DW TV)