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Asylstatistik 2011: Ein Abbild der Krisen

30. Januar 2012

Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland ist auch 2011 wieder gestiegen - auf den höchsten Stand seit acht Jahren. Die von vielen prophezeite Flüchtlingswelle aus den Ländern der "Arabellion" ist aber ausgeblieben.

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Nordafrikanische Flüchtlinge vor ihrer Unterkunft in Chemnitz (Foto: dpa)
Nordafrikanische Flüchtlinge vor ihrer Unterkunft in ChemnitzBild: picture-alliance/dpa

Hinter einem Zahlenwerk wie der "Asylgeschäftsstatistik für den Monat Dezember und das Jahr 2011", zusammengestellt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, stecken viele Einzelschicksale. Und wenn ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Land einen Asylantrag stellt, dann haben dabei eine Reihe von individuellen Faktoren eine Rolle gespielt: die konkrete Entscheidung zum Aufbruch, die Organisation und Finanzierung der Reise, die Frage, wie leicht oder schwer sich bestimmte Grenzen passieren lassen - vielleicht aber auch persönliche Hoffnungen oder Erwartungen an die zukünftigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände.

Abbild der Krisen

45.741 Personen haben im vergangenen Jahr in Deutschland einen Erstantrag auf Asyl gestellt; die Statistik und die Aufschlüsselung nach der Herkunft der Asylbewerber liefert da ein deutliches Bild, wo es brennt in der Welt - und wie stark: "Die größten Veränderungen mit Tendenz nach oben haben wir bei Afghanistan, Iran, Syrien und Pakistan", fasst Rochsana Soraya vom Bundesamt die Zahlen zusammen, "und mit Syrien und Pakistan haben wir zwei neue Länder, die jetzt ganz oben unter den Top-10-Ländern stehen."

Migranten protestieren gegen die Abschiebepraxis in Deutschland (Foto:dpa)
Migranten protestieren gegen die Abschiebepraxis in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa

Das ist auch für Bernd Mesovic von der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl" keine Überraschung: "In den Hauptherkunftsländern bilden sich die akuten, aber auch die lang andauernden Krisen insbesondere im Nahen und Mittleren Osten ab. Wir haben auf der Liste natürlich Syrien mit dem drastischen Anstieg im letzten Jahr - wer die Medienberichte verfolgt, kennt die Gründe."

Keine Flüchtlingswelle aus Nordafrika

Die steigenden Asylbewerberzahlen aus dem Iran seien seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung zu beobachten, diagnostiziert Mesovic. Und Motive, Afghanistan oder Pakistan zu verlassen, liegen vielleicht noch offensichtlicher auf der Hand: "Die latente Krise, die latente Gewalt treibt viele, insbesondere auch jüngere Menschen zur Flucht", sagt Mesovic.

Ausgeblieben ist dagegen die von vielen prophezeite Flüchtlingswelle aus den Ländern der "Arabellion" - zumindest hierzulande. Rochsana Soraya vom Bundesamt vermutet, "dass die Leute jetzt erst einmal abwarten und nach dem Regimewechsel Hoffnung geschöpft haben, dass sich doch etwas nachhaltig verbessert" - eine längerfristige Prognose könne man hier aber nicht treffen.

Infografik zu den Asylantragszahlen in Deutschland 1995-2011 (Grafik: DW)

Trend oder nicht?

Solche Schwierigkeiten der Vorhersage gelten auch für die Asylbewerberzahlen insgesamt: 10,7 Prozent mehr Erstanträge gegenüber 2010 verzeichnet die deutsche Statistik jetzt; ein Jahr zuvor war die Steigerungsrate noch wesentlich höher. Einerseits sind die aktuellen Antragszahlen von den Spitzenwerten Ende der 90er Jahre noch weit entfernt - damals hatte dann eine Verschärfung der Asylgesetzgebung zum politisch gewünschten Effekt, nämlich zu einer drastischen Reduzierung geführt. Andererseits steigt die Zahl der Anträge seit einigen Jahren und hat sich seit dem historischen Tiefststand von 2007 schon wieder verdoppelt. "Es ist ganz klar, dass sich dieser Trend auch bei uns niederschlägt", konstatiert Michael Schleicher, der Leiter des Wohnungsversorgungsbetriebs der Stadt Köln - er ist hier dafür zuständig, hilfesuchenden Menschen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen.

Kapazitätsprobleme

Da sind zum einen die Asylbewerber, die vom Land "zugewiesen" werden oder aber spontan in Köln auftauchen und einen Antrag stellen. Hinzu kommen die sogenannten Kontingentflüchtlinge wie etwa Aussiedler und Russlanddeutsche - und, so Schleicher, "die dritte Gruppe ist die der 'unerlaubt Eingereisten', das heißt, sie kommen aus irgendeinem Grund, stellen aber keinen Asylantrag.“ 2011 musste die Stadt statt wie in den Vorjahren rund 600 plötzlich über 1500 Personen unterbringen: "Wir haben dann erstmals Hotels genutzt, dann haben wir Notcontainer gehabt. Und wir haben ganz schnell für über 80 Personen ein neues Objekt aufgemacht, das wir haben umbauen lassen - innerhalb von vier Wochen haben wir dort 900.000 Euro verbaut." In einer Stadt wie Köln, in der ohnehin ein angespannter Wohnungsmarkt herrsche, seien die Ressourcen an Gebäuden und Grundstücken begrenzt, bedauert Schleicher: "Das heißt, man kann dann nicht so unterbringen, wie man sich das für Flüchtlinge eigentlich wünscht."

Personalaufstockung

Auch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge arbeitet man am Rande der Kapazitäten - jetzt wird das Personal aufgestockt. Bernd Mesovic von Pro Asyl begrüßt das - man rekrutiere die neuen Mitarbeiter allerdings an einem tendenziell ungeeigneten Ort, nämlich in der Bundeswehrverwaltung. "Und ich glaube nicht, das die Qualifikationen, die in der Bundeswehrverwaltung in der Regel gefragt sind, das sind, was man in diesem sensiblen Bereich 'Anhörung von Asylanträgen und Entscheidung über sie' voraussetzen muss." 

Rochsana Soraya vom Bundesamt betont dagegen, bei dem neuen Personal handle es sich ja wohlgemerkt nicht um ehemalige Soldaten: "Das sind auch alles Verwaltungsfachwirte, die haben also die gleiche Ausbildung wie die Leute, die sonst bei uns anfangen und hier den Beruf des Entscheiders erlernen."

Politische Vorgaben?

Ein schwieriger Beruf mit hoher Verantwortung, mit hohen Anforderungen an Sensibilität und interkultureller Kompetenz, da sind sich das Bundesamt und "Pro Asyl" völlig einig. Die Menschenrechtsorganisation befürchtet aber, dass bei Anerkennung oder Ablehnung der Anträge auf Asyl oder Flüchtlingsschutz nicht nur sachliche Motive, sondern auch politische Vorgaben eine Rolle spielen: Trotz steigender Zugangszahlen gingen nämlich die "Schutzquoten", also der Anteil der Personen, die in Deutschland bleiben dürften, zurück: "Und das ist völlig unverständlich, weil die Leute ja aus sehr akuten Kriegs- und Krisensituationen kommen, aus Situationen politischer Verfolgung, genauso wie vor zwei oder drei Jahren und großenteils aus denselben Ländern." Die geringeren Schutzquoten könnten allerdings auch damit zusammenhängen, dass das Bundesamt leichter zu entscheidende Verfahren zeitlich vorziehen würde, ergänzt Bernd Mesovic.

Wohnheim der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt (Foto:dpa)
In Heimen wie diesem warten Asylbewerber auf die Bearbeitung ihres AntragsBild: picture-alliance/dpa

Problemfall Roma

Das betrifft vor allem die Asylanträge von Roma aus Mazedonien und Serbien: Erst- und Folgeanträge zusammengenommen liegt diese Personengruppe nämlich in der Statistik auf Platz eins. Die Erfolgsquote liegt dagegen auf der anderen Seite der Skala - nahezu bei Null. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sagte gegenüber der "Süddeutschen Zeitung", viele Asylsuchende aus Serbien seien "offensichtlich" nicht als verfolgte Flüchtlinge einzustufen. Derartige Asylanträge würden "zügig abgelehnt, um die Dauer des unrechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland und die mit diesem verbundene Belastung der öffentlichen Haushalte möglichst zu minimieren", so Friedrich.

Pro Asyl kann das nicht nachvollziehen: Zum einen seien Roma in vielen osteuropäischen Staaten nicht sicher vor rechtsextremistischen Übergriffen; zum anderen nicht einfach nur arm, "sondern von sozialer Teilhabe fast völlig ausgeschlossen". Bernd Mesovic empfiehlt, dass nicht nur Innenminister Friedrich, "sondern auch einige andere Politiker in Westeuropa sich da die Situation vor Ort sehr genau anschauen."

Auch das Innenministerium sieht bei den Lebensumständen der Roma durchaus "gravierende Probleme“, so Hendrik Lörges von der Pressestelle auf Anfrage der DW. Eine Pauschalisierung des Schutzbedarfes von Asylbewerbern aus Serbien verbiete sich daher, stattdessen sei die sorgfältige Einzelfallprüfung erforderlich: "Die niedrige Schutzquote bei den entschiedenen Asylanträgen serbischer Staatsangehöriger besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass bei den in Deutschland eingereisten Personen nur sehr selten Asylgründe vorliegen. Sie sagt insbesondere nichts aus zur Situation der in Serbien verbliebenen Personen."

Autor: Michael Gessat
Redaktion: Julia Elvers-Guyot