ILO warnt vor "Generation Lockdown"
27. Mai 2020Die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) schätzt, dass wegen der Corona-Pandemie im zweiten Quartal weltweit knapp elf Prozent aller Arbeitsstunden weggefallen sein wird. Das entspricht 305 Millionen Vollzeit-Jobs, heißt es im aktuellen Bericht "COVID-19 und die Arbeitswelt", den die ILO in Genf vorgestellt hat.
Besonders betroffen sind demnach junge Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. Die hatten es schon vor der Pandemie nicht leicht: Die Arbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe ist überdurchschnittlich hoch, und viele arbeiten für wenig Geld im informellen Sektor, ohne Verträge und soziale Absicherung, oft auf lokalen Märkten oder als Dienstleister.
"Diese jungen Menschen werden nun schneller und härter getroffen als andere", sagt Guy Ryder, Generaldirektor der ILO. "Von denen, die zu Beginn der Pandemie einen Job hatten, hat jeder sechste inzwischen aufgehört zu arbeiten." Und selbst jene, die noch Arbeit haben, büßten ein Viertel ihrer Arbeitsstunden ein.
Die ILO sieht junge Menschen gleich dreifach von der Krise betroffen. Sie verlieren ihre Arbeit, ihre Aus- und Fortbildung wird unterbrochen oder gestört, und für die, die jetzt mit der Schule fertig sind und eine Arbeit suchen, gibt es keine Jobs.
Verlorene Generation?
"Alle Untersuchungen zeigen: Wenn Menschen zu Beginn ihres Berufslebens für eine längere Zeit nicht arbeiten können, dann hat das Konsequenzen, die oft Jahrzehnte nachwirken", so Ryder zur DW. "Die holen das nie wieder auf, finden nie wieder zu einer normalen Berufsentwicklung. Deshalb besteht hier die Gefahr einer Lockdown-Generation."
Junge Frauen seien besonders hart getroffen, weil sie besonders oft im Gastgewerbe oder im Handel arbeiten. "Sie waren schon vor der Pandemie benachteiligt", sagt Ryder. "Jetzt ist ihre Lage besonders gefährlich."
Um den Schaden abzumildern und zu verhindern, dass hier eine ganze Generation dauerhaft Benachteiligter heranwächst, fordert die ILO die Regierungen auf, "schnell und weitreichend" zu handeln.
"Wir gehen ein gewaltiges gesellschaftliches Risiko ein, wenn wir uns bei den Wiederaufbau-Bemühungen nach der Pandemie nicht ganz besonders um diese jungen Menschen kümmern", so Ryder. Dies könne auch in Form spezieller Ausbildungsprogramm oder Arbeitsplatzgarantien geschehen.
Es wird teuer
Die Frage ist nur, wer das alles bezahlen soll. Nachdem sich viele Länder für die Krisenbewältigung schon hoch verschuldet haben, wird in der Europäischen Union nun über Konjunkturpakete von bis zu 750 Milliarden Euro diskutiert.
Unter den Ländern, in denen sich das Coronavirus derzeit besonders schnell ausbreitet, sind allerdings inzwischen viele Staaten mit deutlich begrenzteren Mitteln, etwa in Lateinamerika.
Sollte die Zahl der Infizierten auch in Afrika ansteigen, könnte die Lage dramatisch werden. Denn allgemein gilt: je ärmer ein Land, desto größer auch der informelle Arbeitsmarkt.
Für Afrika besonders gefährlich
"Sechs von zehn Menschen auf der Welt verdienen sich auf dem informellen Arbeitsmarkt ihren Lebensunterhalt", sagt ILO-Chef Ryder. "In Afrika südlich der Sahara sind es sogar neun von zehn oder mehr."
Würde hier das Wirtschaftsleben wegen der Pandemie zum Erliegen kommen, könnte das für viele Menschen lebensbedrohlich werden.
"Die internationale Reaktion auf diese Krise war bisher durch einen Mangel an Solidarität und Hilfe geprägt", so Ryder. Das müsse spätestens dann anders werden, wenn es um den Lebensunterhalt von Hunderten von Millionen Menschen geht.
Schwierige Balance
Unter dem Schlagwort "Testing und Tracing" betont der ILO-Bericht auch die Bedeutung von umfangreichen Coronatests und der Rückverfolgung der Infektionsketten.
Wenn hier viel getan werde, brauche man weniger Lockdown und Ausgehverbote - und schütze damit auch den Arbeitsmarkt. Asiatische Länder wie Taiwan und Südkorea konnten die Infektionen so begrenzen, ohne ganze Branchen komplett stillzulegen.
Trotzdem glaubt ILO-Chef Ryder nicht, dass Deutschland im Kampf gegen Corona überreagiert und seiner Wirtschaft unnötig geschadet hat. Ganz im Gegenteil. "Ich glaube, Deutschland hat die Balance alles in allem ziemlich gut hinbekommen", so der Ryder.