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Anstößiges Libretto oder Kunst versus Zensur

Stephan Hille15. März 2005

Ärger am russischen Nationaltheater. Wladimir Sorokins Oper über prominente Klone geht manchen zu weit. Der Streit erinnert an alte Tage.

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Anatoli Iksanow, Direktor am Bolschoi-Theater - Moskaus älteste und beste Adresse für Ballett und Oper - fiel kürzlich aus allen Wolken. Die Duma, das russische Parlament, hatte mit großer Mehrheit eine Untersuchung darüber gefordert, ob eine für den 23. März angesetzte Opern-Premiere Pornografie enthalte.

Initiiert wurde die Abstimmung von dem Abgeordneten Sergej Newerow. Ginge es nach dem Hinterbänkler von der kremltreuen Partei "Einiges Russland", so würde die Premiere der Oper "Die Kinder Rosenthals" in der nächsten Woche aus dem Programm des Bolschoi-Theaters genommen.

Iksannow war bestürzt. "Die Diskussion und Abstimmung in der Duma erinnern mich stark an die 30er-Jahre", schäumte der Direktor in Anspielung an die Literaturverbote unter dem Sowjetdiktator Stalin.

In diesem jüngsten und absurden Streit dreht sich wieder einmal alles um Wladimir Sorokin, zurzeit wohl der bekannsteste wie auch der skandalerprobteste Gegenwartsautor. Sorokin hat das Libretto für "Die Kinder Rosenthals" verfasst.

In der Oper geht es um einen Gen-Forscher, der in einem sowjetischen Geheimlabor Klone von weltberühmten Komponisten wie Tschaikowsky, Mozart, Wagner und Verdi erzeugt. Nach dem Zusammbruch der Sowjetunion gelingt den geklonten Komponisten die Flucht aus dem Labor. Im Moskau der 1990er-Jahre müssen sie nun über die Runden kommen."Rosenthals Kinder" ist das erste Auftragswerk des Bolschoi-Theaters seit 30 Jahren.

Sorokin steht nicht das erste Mal in der Kritik. Bereits vor zwei Jahren musste sich der für seine drastische Darstellung von Sex und Gewalt bekannte Autor wegen seines Romans "Der himmelblaue Speck" vor Gericht verantworten. Damals hatte ihn die kremltreue Jugendorganisation "Gemeinsam gehen" wegen angeblicher Verbreitung von Pornografie angezeigt, weil in dem Roman ein imaginärer Geschlechtsakt zwischen Stalin und Chruschtschow beschrieben wird. Die Jugendorganisation hatte damals eine riesige Kloschlüssel vor dem Bolschoi-Theater aufgebaut und die Werke von Sorokin und anderen Gegenwartsautoren öffentlich darin versenkt. Das Gericht sprach Sorokin schließlich von dem Pornografie-Vorwurf frei.

Der Duma-Abgeordnete Neworow wollte nun unbeding verhindern, dass Sorokins "abgeschmackte Stücke" ausgerechnet auf der Bühne des russischen Nationaltheaters aufgeführt werden. Umso peinlicher für den Abgeordneten war, dass er öffentlich zugeben musste, dass Libretto Sorokins gar nicht gelesen zu haben.

Bolschoi-Direktor Iksanow zog sogleich die Parallele zur Hetze des sowjetischen Schriftstellerverbandes gegen Boris Pasternaks weltberühmten "Doktor Schiwago". Damals habe es ebenfalls geheißen: "Ich habe zwar Pasternak nicht gelesen, aber ich verurteile ihn." Niemand dürfe uns verbieten zu inszenieren, was wir als wichtigfür das Theater betrachten, verteidigte Iksanow die künstlerische Freiheit. Gleichzeitig bedankte sich der Direktor des traditionsreichen Bolschoi-Theaters bei dem Parlamentarier, der den ganzen Wirbel verursacht hatte. "Eine bessere Reklame für die Premiere am 23. März hätten wir uns kaum wünschen können."