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Estlands Angst vor den Russen

Isabelle de Pommereau/fab6. Dezember 2014

Die estnischen Streitkräfte haben großen Zulauf von Freiwilligen erhalten. Die Esten wollen vorbereitet sein, falls Russland seine Expansionen auch gegen ihr Land ausdehnen würde. Aus Tallinn Isabelle de Pommereau.

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Übung von Mitgliedern des Verteidigungsbunds (Foto: Kaitseliit)
Bild: Kaitseliit

Als Alo Looke und seine Studienfreunde das letzte Mal zusammen Kaffee getrunken haben, gab es für sie nur dieses Thema: Die Annexion der Krim durch Russland und die russische Invasion in der Ostukraine. "Was würden wir tun, wenn uns hier in Estland das Gleiche passiert?", fragte Looke, der für die Nationaloper Estlands arbeitet. "Wir können doch nicht nur herumsitzen und nichts tun!" Lookes Freunde hatten schnell eine Antwort parat: Tritt in die Freiwilligenarmee Estlands ein.

Der Verteidigungsbund, genannt Kaitseliit, wurde 1918 nach der Unabhängigkeit von Russland gegründet. Er löste sich aber wieder auf, nachdem die Sowjetarmee Estland 1940 besetzte. Nach der erneuten Unabhängigkeit 1991 wurde der Verteidigungsbund wieder ins Leben gerufen, die jüngste Rekrutierungswelle ist seither die stärkste.

Estland hat 1,3 Millionen Einwohner, aber nur 3800 hauptberufliche Soldaten. Unterstützt werden sie von etwa 14.500 Freiwilligen - sei es bei Aufständen oder auch im Kriegsfall. Dazu kommen noch 140 freiwillige Mitglieder der estnischen Cyber-Armee, die dem Verteidigungsministerium unterstellt sind.

Alo Looke (Foto: Kaitseliit)
Rekrut des Verteidigungsbunds: Alo LookeBild: Alo Looke

"Was kann ich für mein Land tun?"

Der 30-jährige Looke und etwa 1000 weitere Esten haben sich in diesem Jahr beim Verteidigungsbund verpflichtet. Damit hat sich dort die Zahl der Rekruten im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Auch die Nachbarstaaten verzeichnen einen großen Anstieg in ihren freiwilligen Militärinstitutionen - so in Litauen, Lettland und Polen. "Die Situation in der Ukraine hat diesen Ansturm ausgelöst", sagt Kaitseliit-Kommandeur Meelis Kiili. "Wir Esten sind sehr friedfertig oder sogar pazifistisch, aber jetzt fragen sich die Leute hier: 'Was kann ich für mein Land tun?'"

Estland beobachtet nicht nur die Vorgänge in der Ukraine. Moskau verletzte mehrfach den estnischen Luftraum und die Seegrenzen der baltischen Staaten in der Ostsee. Die NATO denkt erstmals über Großmanöver in der Region nach. Die baltischen Staaten befürworten allerdings eher eine permanente NATO-Präsenz auf ihrem Boden. Ihre Bürger wollen aber auch selbst etwas tun.

"Die westeuropäischen Staaten leben schon so lange in Frieden und Sicherheit, dass die jüngeren Menschen dies dort als gegeben ansehen. Sie vergessen, welchen Wert Demokratie, Sicherheit und Frieden haben", sagt Martin Hurt vom Internationalen Zentrum für Verteidigungsstudien, ein Think Tank in Tallinn. "Die Menschen in Polen und den baltischen Staaten sorgen sich um ihre Sicherheit und wollen ihren Teil beisteuern."

Eine Frage der Ehre

Frau in Uniform (Foto: "Andria Hüva/Kaitseliit)
Auch Frauen melden sich als FreiwilligeBild: Andria Hüva/Kaitseliit

Das Spektrum der Kaitseliit-Rekruten ist breit. So ist der Hauptschüler genauso dabei wie der Söldner, der in der russischen Armee in Afghanistan kämpfte. Der IT-Professor Linnar Viik erklärt dieses Gefühl für Bürgerpflicht mit der Geschichte der Esten. "Unsere Unabhängigkeit ist noch sehr fragil und verwundbar, aber sehr wichtig für Estland."

"Es ist sehr ehrenvoll, ein Teil des Verteidigungsbunds zu sein", sagt Raivo Tamm, eine Fernsehlegende in Estland. "Die Bedrohung aus dem Osten ist immer da – das kann ich nicht vergessen", so Tamm. "Unsere Geschichte hat ja leider gezeigt, dass wir vorbereitet sein müssen", sagt auch Andres Lehtmets. Der Vorsitzende der Gesellschaft für Psychiatrie in Estland hat sich erst kürzlich dem Verteidigungsbund angeschlossen – im Alter von 50 Jahren.

Krieg in den Köpfen

Polizisten und Randalierer (Foto: picture-alliance/dpa)
Gewaltsame Proteste und Polizeieinsätze 2007 in TallinBild: picture-alliance/dpa

Mit Sorge schauen die Esten auf die Stimmung unter den russisch-stämmigen Mitbürgern, die etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, wie etwa in Narva, der drittgrößten Stadt direkt an der russischen Grenze. "Wir alle wissen: Sollte ein russisch-stämmiger Anwohner durch einen estnischen Polizisten getötet werden, wird Putin einschreiten und sagen, 'wir müssen unseren Landsleuten helfen'", fürchtet der 22-jährige Mati Sild. "In der heutigen Zeit fängt der Krieg in den Medien und den Köpfen der Menschen an."

Sild trat 2007 als Schüler dem Verteidigungsbund bei. Auslöser waren die Ausschreitungen in Tallinn, nachdem die estnische Regierung ein sowjetisches Soldatendenkmal in der Innenstadt abreißen wollte. Er habe gesehen, wie russische Randalierer Steine auf die Polizisten warfen und Geschäfte anzündeten. Er habe aber auch gesehen, wie Mitglieder des Verteidigungsbundes bereitstanden, um die Polizei zu unterstützen. Er wäre damals gerne dabei gewesen. Als Russland auf der Krim einmarschierte, kam die Erinnerung daran zurück. "Sollte irgendetwas hier passieren, will ich bereit sein", so der Biotechnologiestudent Sild. "Ich möchte dann ein Gewehr bedienen können und nicht in den Westen fliehen müssen."