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Abschied vom Zivildienst?

3. November 2009

Wer in Deutschland den Wehrdienst verweigert, muss Zivildienst leisten. Das machen zurzeit rund 75.000 junge Männer. Für das Sozialsystem sind die Zivis unverzichtbar. Eine verkürzte Dienstzeit bedroht das ganze System.

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Ein Zivildienstleistender füttert einen alten patienten im Krankenhaus (Foto: AP)
Zilvildienstleistende sind im Krankenhaus unverzichtbarBild: AP

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP ist 124 Seiten dick. Er ist in vielen Punkten nur die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Ein gutes Beispiel dafür ist der Wehrdienst für junge, volljährige Männer. Die konservative Union möchte die Wehrpflicht beibehalten, die FDP würde sie gerne abschaffen zu Gunsten einer Berufsarmee aus Freiwilligen. Also haben sich die Partner auf eine Mittellösung geeinigt: In Zukunft sollen die jungen Männer nur noch sechs Monate Wehrdienst oder Ersatzdienst schieben.

Alarmsignale

Die betroffenen Sozialverbände und Hilfsorganisationen, die Zivildienstleistende beschäftigen, schlagen Alarm. Gabriele Thivissen ist im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen für die Zivildienstleistenden des Deutschen Roten Kreuzes zuständig. Für sie steht fest, dass "die Auswirkungen ganz schlimm sein werden, wenn die Regierung bei diesem Vorhaben bleibt und das ganze zum Gesetz wird".

DRK-Rettungssanitäter betreuen nach einem Verkehrsunfall ein Kleinkind (Foto: dpa)
Rettungssanitäter des Deutschen Roten Kreuzes im EinsatzBild: picture alliance / dpa

Derzeit sind allein in ihrem Landesverband 850 Zivildienstleistende im Einsatz, davon 25 Prozent im Rettungsdienst. Aber wenn es bei der Verkürzung auf sechs Monate bleibt, "dann rechnet sich das nicht mehr", erklärt Thivissen im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Die Ausbildung im Rettungsdienst dauert allein schon drei Monate. Dann kommt noch die Einweisung in den einzelnen Dienststellen dazu." Ausbildung und Einsatzzeit stünden dann in keinem Verhältnis mehr zueinander.

Weniger Hilfe?

Ulrike Mascher, die Präsidentin des Sozialverbandes VdK in Deutschland, befürchtet, dass die Verkürzung vor allem pflegebedürftige und behinderte Menschen treffen wird: "Studenten und Studentinnen mit Behinderung zum Beispiel können häufig nur studieren, weil sie von einem Zivildienstleistenden begleitet werden. Aber wenn die sich alle sechs Monate einen neuen Zivi einarbeiten und auf jemand neues einstellen müssen, dann wird es für sie immer schwieriger."

Die VdK-Präsidentin geht im Gespräch mit der Deutschen Welle außerdem von einer gewaltigen Kostenexplosion aus, wenn vergleichsweise billige Zivildienstleistende durch teure Fachkräfte ersetzt werden müssen. Das könnte die betroffenen Organisationen im schlimmsten Fall sogar dazu zwingen, Angebote einzuschränken oder ganz aufzugeben. "Dann muss man sich von Seiten der Träger und der öffentlichen Hand, die ja häufig Zuschüsse gibt, darauf einstellen, dass es im Endeffekt deutlich teurer wird."

Pförtner statt Rettungssanitäter?

Umgekehrt würde der verkürzte Zivildienst auch für die betroffenen jungen Männer deutlich an Attraktivität verlieren, weil Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz darauf verzichten werden, sie in nützliche Spezialbereiche wie den Rettungsdienst einzuarbeiten. Wer will schon gerne nur den Pförtner spielen oder den ganzen Tag das Lager aufräumen? Teure Fachkräfte haben auf der anderen Seite keine Zeit, das zu tun, was ein billiger Zivildienstleistender jetzt noch tut. Er bringt mehr Zeit mit. Er kann länger zuhören. Er kann vorlesen oder einfach nur am Bett sitzen und die Hand halten.

Spätfolgen?

Die deutsche Gesellschaft vergreist. Es müssen immer mehr alte, kranke und behinderte Menschen versorgt werden. Pflegedienstleistungen sind teuer, und es gibt viel zu wenig Pflegepersonal.

Hände einer alten Frau, die im Krankenhaus den Pflegegriff über dem Bett umklammern (Foto: AP)
Auch die Altenpflege ist auf Zivis angewiesenBild: AP

Zivildienstleistende sind Säulen des Systems und keine bloße Ergänzung des Personals. Deshalb warnt DRK-Frau Thivissen auch vor den Langzeitfolgen des geplanten Mini-Ersatzdienstes: "Wenn unsere Zivildienstleistenden neun Monate bei uns waren, dann sehen sie auch die Attraktivität des Pflege-Berufes. Hier geht es auch um Nachhaltigkeit." Manche gingen dann nachher ins Ehrenamt, oder sie blieben sogar hauptberuflich dabei. "Und das wird durch die Verkürzung wegfallen", warnt Thivissen.

Vom Ersatzdienst zur Säule des Systems

Seit 1955 sind volljährige, junge Männer in der Bundesrepublik verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. Wer seine Pflicht an der Waffe aus Gewissensgründen verweigert, muss einen zivilen Ersatzdienst leisten. Am Anfang dauerte der Wehrdienst 18 und der Zivildienst 20 Monate, als kleine Strafe für die Verweigerer. Aber über die Jahre hat eine Angleichung stattgefunden. Weil die Bundeswehr inzwischen immer weniger junge Männer einzieht, sind Wehr- und Zivildienst im Jahr 2002 auf neun Monate verkürzt worden. Die weitere Verkürzung auf sechs Monate soll für mehr Gerechtigkeit sorgen, weil bei einem höheren Durchlauf insgesamt wieder mehr junge Männer eingezogen werden können.

Autorin: Sandra Petersmann

Redaktion: Kay-Alexander Scholz