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Anfang vom Ende?

Michael Knigge10. Februar 2003

Das Veto aus Paris, Berlin und Brüssel zum NATO-Beistand für die Türkei im Kriegsfall könnte nach Einschätzung von Experten der Anfang vom Ende der Allianz sein. Die Folge wären vermehrte Alleingänge der USA.

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Streitpunkt "militärischer Beistand"Bild: AP

"Die NATO wird jetzt genau das Ende finden, das ihr nach 1989 schon oft prognostiziert wurde", sagt Winand Gellner, Politikwissenschaftler an der Universität Passau im Gespräch mit DW-WORLD. Die NATO sei als kollektives Verteidigungsbündnis gegen eine gemeinsame Bedrohung – den Warschauer Pakt - gegründet worden. Wenn diese gemeinsame Bedrohung nicht mehr vorhanden sei, dann sei die Zeit der NATO abgelaufen, sagt Gellner.

Den Warschauer Pakt gibt es nicht mehr - und eine Neuanpassung des Bündnisses hält Gellner für unmöglich. "Ein Beistandspakt gegen Terrorismus oder andere Bedrohungen je nach Situation, wenn etwa Deutsche oder Franzosen sagen, wir sehen die Bedrohung anders, ist unrealistisch. Die NATO kann nur funktionieren unter Führung der Amerikaner, oder sie funktioniert nicht. Das mag man kritisieren oder nicht, aber das ist so."

Neue Richtung

Nach Auffassung von Reimund Seidelmann von der Universität Gießen signalisiert die Blockadehaltung Deutschlands in der NATO eine Abkehr von der traditionellen Linie deutscher Außenpolitik. "Die sicherheitspolitische Räson der Bundesrepublik Deutschland war immer die NATO", betont Seidelmann im Interview mit DW-WORLD. Dies könne man nicht schnell und kurzfristig ändern. "Wir haben die NATO ja auch benutzt, um die USA bei Themen, die uns wichtig waren - wie der KSZE-OSZE-Prozess im Jahr 1980 unter Präsident Reagan -, unter dem Hinweis der Bündnistreue auf unsere Linie zu bringen. Da können wir jetzt nicht einfach diese Treue verweigern."

Zudem sei gegenwärtig der falsche Zeitpunkt, eine Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik einzuleiten. Wenn man eine Kurskorrektur gegenüber den USA durchführen wolle, müsse man das langfristig, durchdacht und in Übereinstimmung mit den Partnern einfädeln. "Das ist alles aus der Hüfte geschossen", sagt Seidelmann und ergänzt: "Wenn das Ziel ist, die US-Politik zu korrigieren, dann wird durch diese deutsche Außenpolitik genau das Gegenteil erreicht."

"Zerschossene Grundpfeiler"

Die Kritik an der deutschen Außenpolitik teilt Seidelmanns Kollege Gellner. "Es ist seit 1945 nie vorgekommen, dass die deutsche Außenpolitik sich beide Grundpfeiler zerschossen hat, den transatlantischen und den europäischen." Das Vertrauensverhältnis zu den Amerikanern sei völlig zerrüttet, was nicht nur für die Republikaner, sondern auch für die Demokraten gelte. "Das war eben mehr als nur ein Wahlkampfscherz des Kanzlers, das hat die Bundesregierung völlig unterschätzt", sagt Gellner. "Die Amerikaner werden sich das merken und sich entsprechend verhalten. Besonders bei künftigen Gefahren für Deuschland werden sie genau abwägen, wie sie handeln." Die einhellige Meinung aus Washington laute in etwa: "Ihr habt mit Marshall-Plan und NATO-Hilfe den Kalten Krieg überstanden und jetzt unterstützt ihr uns nicht ..."

Berliner Kakophonie

Für den Außenpolitik-Experten Seidelmann zeigt die derzeitige NATO-Krise nur erneut ein grundsätzliches Problem der Bundesregierung auf. "Bundeskanzler Schröder betrachtet die Außenpolitik ausschließlich als Instrument der Innenpolitik, des Wahlkampfes und der Ablenkung von ökonomischen Problemen, er hat in ihr nie einen eigenständigen Bereich gesehen."

Daher sei auch die Kompetenzverteilung in der Außenpolitik völlig unklar. "Die deutsche Außenpolitik zeichnet sich in der Irak-Politik durch kopfloses Reagieren aus." Es gebe eine Kakophonie von Kanzleramt, Außenministerium und Verteidigungsministerium, sagt Seidelmann und fügt hinzu: "Es werden alle, aber wirklich alle möglichen Fehler gemacht", betont der Gießener Politikwissenschaftler unter Verweis auf Außenminister Joschka Fischer. "Wir haben einen Außenminister, der immer nur ein zerfurchtes Gesicht macht, aber keine Gegenposition zum Kanzler bezieht. Ein Außenminister Genscher hätte sich das unter Kohl nicht bieten lassen, sondern gesagt, das ist mein Bereich. Wenn du hier hineinregierst, musst du dir einen anderen Koalitionspartner suchen."

Mehr Diplomatie üben

Neben der falschen Grundausrichtung der Außenpolitik mangelt es Seidelmann zufolge auch an politischem Gespür. "Die deutsche Außenpolitik hält sich nicht an die Gepflogenheiten und Praktiken der internationalen Diplomatie." Man können keine politische Kehrtwendung vollziehen und sie dann noch den Partnern nur über die Presse mitteilen. "Das kurzfristige Benutzen des Irak-Themas während des Bundestagswahlkampfs ist ja vielleicht noch verzeihbar, aber dann muss man anschließend sehen, dass man da wieder mit einem blauen Auge rauskommt. Aber was momentan geschieht, ist völlig unprofessionell." Zudem sei die Irak-Frage für Deutschland kein "Essential", weshalb das derzeitige Verhalten deutschen Interessen widerspreche.

"Wir stehen sehr allein da", sagt der Passauer Politikwissenschaftler Gellner mit Blick auf den weiteren Verlauf der Irak-Verhandlungen im Sicherheitsrat. "Die Franzosen sind diplomatisch geübt, die machen viel Geschwafel, aber wenn es wirklich darauf ankommt, haben sie sich immer hinter die Amerikaner gestellt – auch aus Eigeninteresse. Es wird eine zweite Resolution im Sinne der Amerikaner geben, und die Franzosen werden sich enthalten."