1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Weichenstellung

Silke Oppermann, Baku26. Oktober 2006

Enttäuscht vom Kommunismus und verärgert über die Ungerechtigkeit in Aserbaidschan suchen viele junge Leute Halt im Glauben. Die politische Zukunft des Staates hängt von der Entwicklung des Islam ab.

https://p.dw.com/p/9I5E
Moschee in Baku
Moschee in BakuBild: AP

Am Freitag Abend kurz nach halb acht ruft der Muezzin zum Gebet. Die Gläubigen eilen zur Moschee auf einer Anhöhe in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. Unten schimmert in der Abenddämmerung das Kaspische Meer. Den Studenten Tural und Amil ist es wichtig, die Regeln des Islam zu befolgen. Dabei fühlen sie sich keiner speziellen Strömung des Islam zugehörig. Ob Schiit oder Sunnit, das ist egal, findet der 21-jährige Wirtschaftsstudent Tural: "Für mich ist es wichtig, Moslem zu sein in meinem eigenen Glauben, mit meinen Worten und Taten."

Keine Unterscheidung der Moslems

Matrjoschka-Puppen in Aserbaidschan mit den Konterfeis von Osama Bin Laden und George Bush senior
Matrjoschka-Puppen auf einem MarktBild: AP

Die Mehrheit der Aserbaidschaner sieht keine Unterschiede zwischen sunnitischem und schiitischem Islam. In einigen Moscheen beten sogar Anhänger beider Strömungen gemeinsam. 70 Jahre Kommunismus haben den Islam, zu dem sich 95 Prozent der Einwohner bekennen, verändert. Vor allem ältere Aserbaidschaner leben nach dem Motto: Der Koran verbietet den Wein, also trinken wir Wodka. Die einzelnen Strömungen haben ein friedliches Nebeneinander entwickelt.

Der Kommunismus hat das Wissen über die Religion beeinträchtigt, findet Turals Freund Amil, der Orientalistik und Persisch studiert. "Einige von unseren Leuten betrachten sich als Moslems, aber sie trinken Alkohol und essen Schweinefleisch", meint Amil. Wenn sie den Koran nicht lesen würden, könnten sie die Grundlagen des Islam nicht kennen.

Islam wie zu Mohammeds Zeiten

Das geringe Wissen über die Inhalte des friedlichen Islam und die Unzufriedenheit mit der eigenen Gesellschaft bilden eine explosive Mischung. Über 40 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar am Tag, die Arbeitslosenrate ist hoch. Viele junge Menschen hoffen, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit in der Religion zu finden und wenden sich daher dem Islam zu, sagt Eva-Maria Auch, Islamwissenschaftlerin aus Bonn. In der Gesellschaft sei inzwischen praktisch alles mit Geld verbunden. "Wer nicht geben und nehmen kann, bleibt automatisch ausgeschlossen", betont sie. So käme die Forderung nach einer Gesellschaft wie zu Mohammeds Zeiten auf, mit Gleichheit und Gerechtigkeit für alle.

Gefahr für den säkularen Staat

Genau das behaupten Anhänger des salafistischen Islam zu bieten. Der Salafismus ist eine extremistische Absplitterung des sunnitischen Islams, der vor allem in den Golfstaaten und auch im benachbarten Tschetschenien verbreitet ist. Osama Bin Laden gehört ebenfalls dieser Strömung an. Seit einigen Jahren boomen die salafistischen Moscheen im Land.

Anar Waliyew aus Baku promoviert in den USA zum Thema Terrorismus. Er sieht mit dem Aufkommen des radikalen Islam zwei Möglichkeiten für die politische Zukunft des Staates. Die düstere Variante ist, dass immer mehr politisch unzufriedene Menschen sich den radikalen islamischen Werten zuwenden. Sollten die Salafisten in der Zukunft die Mehrheit im Parlament gewinnen, würden sie versuchen den säkularen Staat in Aserbaidschan zu verändern, befürchtet Waliyew. "Sie wollen Gesetze nach dem Islam einführen, die der Demokratie zuwiderlaufen." Für wahrscheinlicher hält er aber die andere Variante: dass sein Land den Anschluss an den demokratischen Westen schafft.

"Islam verändert Menschen zum Positiven"

Der Orientalistik-Student Amil ist überzeugt, dass sein Land diesen Anschluss findet. Der Islam sei für ihn eine sehr demokratische Religion, die Menschen zudem positiv verändere: "Ein Mann, der getrunken, Schmiergelder angenommen und Leute betrogen hat, kann das alles aufgegeben, nachdem er zum Islam gekommen ist." Das wäre etwas, was die Europäer lernen könnten. "Die denken manchmal, Islam bedeute immer Terrorismus, aber wir können ihnen das Gegenteil beweisen."