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Alltagsleben in der erweiterten Union

4. Mai 2005

Die Europäische Union ist seit einem Jahr um 75 Millionen Menschen reicher. Was hat der EU-Alltag für die jungen Mitgliedsländer gebracht und wie haben die alten EU-Staaten ihre neuen Partner verkraftet?

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Mehr Flaggen- und Sprachvielfalt in Straßburg nach der ErweiterungBild: AP

Die Menschen im "Europa der 25" haben das erste Jahr der EU-Erweiterung sehr unterschiedlich erlebt. So zieht die überwiegende Mehrheit der jungen Mitgliedsländer nach den jüngsten Umfragen eine positive Bilanz. Ihre Wirtschaft wächst, EU-Gelder fließen, die Reisefreiheit wird genutzt und besonders bei den jungen Leuten herrscht reger Bildungsaustausch. Die Bevölkerung des alten EU-Clubs zeigt sich dagegen verhaltener und zum Teil besorgter über die Vergrößerung der Union. Viele Westeuropäer sind vor allem deshalb von einer Angststimmung erfasst, weil sich der Druck auf ihre Arbeitsplätze erhöht.

Streit um die Dienstleistungsrichtlinie

Viele EU-Neulinge stellen keinerlei Ansprüche und arbeiten zu Dumpingpreisen, wie zum Beispiel im Volvo-Werk in Schweden. Schwedens Wirtschaftsminister Thomas Östros ist deshalb gegen die von der EU-Kommission geplante Dienstleistungsrichtlinie, die vorsieht, dass für jede Art von Arbeit nur der Mindest-Standard des Landes gilt, aus dem der Anbieter kommt: "Unsere Strategie ist es, jeden Teil der Direktive zu diskutieren und gute Lösungen zu erreichen, die gegen Sozialdumping schützen, aber offen für den freien Handel sind. Wenn wir das nicht erreichen, dann wollen wir Ausnahmen durchsetzen, klar, so wie Deutschland auch."

Bis sich die Lohnniveaus stärker angeglichen haben, sind - wie von Deutschland und Frankreich vorgeschlagen - Übergangsregelungen wie Mindestabsicherungen wichtig, die Stundenlöhne von ein paar Euros verhindern. Viele Pfleger, Handwerker, Bauarbeiter und Bauern sehen sich angesichts der Konkurrenz osteuropäischer Unternehmen sonst in ihrer Existenz bedroht. Ein französische Bauer sagt: "Als junger Landwirt kann ich sagen, Europa bereitet uns große Sorgen. Wir hängen viel zu sehr von der Gemeinsamen Agrarpolitik ab."

Die Billiganbieter, die Niedriglohnflut und die zunehmende Abwanderung von Unternehmen hat die positive EU-Stimmung in vielen Ländern ins Negative verwandelt. Und so sorgt sich vor allem Paris vor einem Nein der ohnehin schon euro-skeptischen Franzosen bei der Volksabstimmung über die EU-Verfassung.

Offener Arbeitsmarkt in Großbritannien

Anders als die europäischen Nachbarn auf dem Festland ließ Großbritannien den Arbeitsmarkt offen. Um ein Abdriften in den Schwarzmarkt zu verhindern, müssen sich EU-Neuankömmlinge lediglich bei den Behörden melden. So kann die Regierung den Arbeitsmarkt im Auge behalten, Steuern eintreiben und kontrollieren, ob die Mindestlöhne beachtet werden. Nach Jan Mokschitzki, Präsident des Verbands der Polen in Großbritannien, gibt es drei Gruppen, die in Großbritannien Arbeit suchen: "Erstens, hochqualifizierte Banker, Ärzte, IT-Experten. Sie werden oft schon in Polen angeworben, und mit einem befristeten Vertrag und einer festen Wohnung nach England gelockt. Die zweite Kategorie besteht aus gelernten Arbeitskräften mit guten Englischkenntnissen und Berufsabschlüssen: Klempner, Elektriker, Schlosser. Und die dritte, die Problemgruppe: polnische Migranten, die kein Wort Englisch sprechen, kaum Geld in der Tasche haben und sich London als El Dorado vorstellen, wo das Gold von den Bäumen tropft."

Große Zufriedenheit in Polen

Diese werden natürlich bitter enttäuscht, geben sich der Ausbeutung preis und landen unweigerlich auf der Straße. Das ist allerdings nur eine Minderheit. Über 60 Prozent der Polen sind hyperflexibel, gut ausgebildet, hochmotiviert und mit dem EU-Beitritt zufrieden. Wichtigster Grund dafür ist, dass sich das Wirtschaftswachstum mehr als verdoppelt hat. Selbst die Landwirte, die die EU-Erweiterung völlig abgelehnt haben, verstehen es mittlerweile, die EU-Strukturfonds voll auszuschöpfen.

Der Blick aus Ungarn

Die Ungarn arbeiten dagegen lieber zuhause oder allenfalls im Nachbarland Österreich. Dennoch haben sie ihren Platz in der Union der 25 gefunden, bestätigt der ungarische Europarlamentarier Szabolcs Fazakas: "Wir Ungarn sind ein wenig Nutznießer von dieser Aufmerksamkeit - in der Hinsicht, dass die Kollegen, die Deutschen, die Engländer gesagt haben, jetzt müssen wir aufpassen, dass die neuen Kollegen gewisse Positionen bekommen."

Optimismus auch in Tschechien

Die Posten haben sie bekommen und die neuen Partner reden mit, auch wenn sie sich im ersten Jahr mit Vorschlägen und Neuerungen noch zurückgehalten haben. Der frühere tschechische Premierminister Vladimir Spidla blickt als EU-Kommissar positiv in die Zukunft: "Mich stimmt optimistisch, dass die Meinungsumfragen immer wieder sagen: Die Menschen in der Tschechischen Republik wollen mehr europäische Integration. Sie wollen auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Also, ich glaube, die Ansichten der Menschen unterscheiden sich von denen der Repräsentanten einiger Parteien."

Damit spielt er auf seinen Europa-feindlichen Präsidenten Vaclav Klaus an, der als einziges Staatsoberhaupt eines EU-Landes den EU-Verfassungsvertrag kategorisch ablehnt. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung hingegen sind laut jüngster Umfrage insgesamt zufrieden mit der EU-Mitgliedschaft ihres Landes.

Slowakei lockt Investoren

Anders als in Tschechien sind die Preise für Mieten und Nahrungsmittel in der Slowakei kräftig gestiegen. Gleichzeitig wurde das Kindergeld gekürzt. Die Slowaken kreiden dies allerdings weniger der EU an als der inländischen Mehrwertsteuererhöhung. Mit Unternehmenssteuersätzen von unter 20 Prozent gibt das Land Investitionsanreize, die von vielen Firmen der alten EU-Länder gerne angenommen werden. Die Österreicher sind dabei Vorreiter, erklärt ihr Botschafter in der Slowakei Martin Bolldorf: "Das sind einerseits die Rahmenbedingungen, die in der Slowakei sehr positiv sind, wie etwa das wirtschaftspolitische Klima oder die hervorragend ausgebildete Arbeitskraft."

Slowenien setzt auf den Euro

Die Slowenen fühlen sich schon lange als EU-Europäer. Ihr wichtigstes Ziel ist die im Jahr 2007 geplante Einführung des Euro. Um dieses ehrgeizige Vorhaben zu erreichen, sollen ein strenger Sparplan aufgelegt und Teile des Staatseigentums privatisiert werden.

Wirtschaft im Baltikum blüht

Die Wirtschaft der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen blüht. Die Hauptstädte passen ins europäische Bild. Schwierigkeiten gibt es dagegen im sozialen Bereich, beim Gesundheitswesen und im Bildungssektor, in den die Länder mehr investieren sollten, erklärt die Generaldirektorin des lettischen Arbeitgeberverbands, Elina Egle: "Unser Interesse gilt ähnlich wie in anderen europäischen Staaten vor allem den Investitionen in Ausbildung und Forschung."

Zypern noch immer geteilt

Malta mit seinen 400.000 Einwohnern ist das kleinste neue Mitgliedsland der EU. Die Mittelmeerinsel startete in Brüssel eine Initiative, die eine neue EU-weite Regelung für das Vor-Anker-Gehen großer Tanklastschiffe verhindert hat. Zypern war dabei hilfreich. Das Einkommen dieser drittgrößten Mittelmeerinsel beträgt inzwischen etwa 80 Prozent des Durchschnittseinkommens der 15 alten EU-Länder. Die Arbeitslosenquote liegt unter 2,5 Prozent. Wirtschaftlich floriert der Südteil der Insel. Ihre Probleme sind dagegen politischer Natur. Sie liegen weiterhin in ihrer Teilung in einen griechisch-zypriotischen Süd- und einen türkisch-zypriotischen Nordteil.

Petra Kohnen
DW-RADIO/Europa, 1.5.2005, Fokus Ost-Südost